Die Wahrnehmungsstörung Verallgemeinerungsunfähigkeit (Untergeneralisierung) und das damit verbundene Überforderungsverhalten bilden den Inhalt des dritten Blogs. Neben den neurowissenschaftlichen Erläuterungen werden diesbezüglich Umgangsformen und auch Präventionsmaßnahmen angeführt.
Wahrnehmungsstörung Verallgemeinerungsfähigkeit und Überforderungsverhalten
Anhand von zwei Beispielen wird die Wahrnehmungsstörung Verallgemeinerungsunfähigkeit und die damit verbundenen Reaktionen beschrieben:
Beispiel 1: Eine Demenzkranke im Heim sucht ihr Zimmer auf. Als sie bemerkt, dass auf ihrem Bett anstelle der roten Tagesdecke eine blaue liegt, stutzt sie und verlässt leicht verwirrt das Zimmer und macht sich auf die Suche nach ihrem Zimmer (Lind 2011: 95).
Beispiel 2: Eine der Demenzkranken vertraute Pflegende tritt erstmals mit einer neuen Frisur an die Bewohnerin heran, um mit der Pflege zu beginnen. Sie wird jedoch von der Demenzkranken nicht erkannt, die verunsichert zurückweicht (Lind 2011: 95).
In diesen beiden Fällen wird sowohl eine Örtlichkeit als auch eine Person aufgrund einer recht kleinen Abweichung nicht wieder erkannt und entsprechend als etwas Fremdes gemieden. Diese Wahrnehmungsstörung wird vom Autor als Verallgemeinerungsunfähigkeit bezeichnet, der gebräuchliche Fachausdruck hierfür lautet Untergeneralisierung. In diesem Zusammenhang sind folgende Sachverhalte anzuführen:
- Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium sind noch zu Lernleistungen fähig. Sie können somit noch Langzeitgedächtnisinhalte aufbauen. Dieses Lernen beschränkt sich jedoch auf das unbewusste Gewohnheitslernen (ständige Wiederholungen), da die hierfür zuständigen Hirnareale (u. a. Kleinhirn) noch ausreichend funktionsfähig sind (Markowitsch et al. 2006, Siegler et al. 2016: 136). Bei Demenzkranken wie bei Kleinkindern bedarf es jedoch vielfacher Wiederholungen der Reizgefüge, bis sie angemessen im Langzeitgedächtnis abgespeichert und damit zugleich verinnerlicht sind (Athlin et al. 1987, Markowitsch et al. 2006: 161).
- Die Fähigkeit des Wiedererkennens eines vertrauten Reizgefüges mit nur geringen Veränderungen besteht jedoch nicht mehr, da die hierfür erforderlichen Schaltkreise in höheren Hirnregionen nicht mehr vorhanden sind. Die Kompetenz zum Verallgemeinern geht somit verloren. Auch hier lässt sich wieder die Parallele zur Hirnreifung anführen. Säuglinge sind bereits in der Lage, Reizgefüge im Langzeitgedächtnis zu speichern. Werden nun kleinere Änderungen an den Reizgefügen vorgenommen, dann werden diese Gegenstände (z. B. ein Mobile) nicht wiedererkannt (Markowitsch et al. 2006: 145).
Mit der Wahrnehmung nun fremder Reizgefüge – hier Bewohnerzimmer und Pflegende – sind Demenzkranke psychisch überfordert. Das führt zu Verunsicherung und Verwirrung und sie reagieren dann mit Überforderungsverhalten. In diesen Fällen wird einerseits vergeblich das eigene Zimmer gesucht mit der Gefahr des Verirrens (Selbstgefährdung) und im zweiten Fall kommt die Zusammenarbeit bei einer Pflegehandlung nicht zustande (Pflegeverweigerung).
Konsequenzen für die Praxis
Wie bereits im zweiten Blog angeführt, gilt es, das Modell Stetigkeit oder das Konzept Ritualisierung bei allen Gegebenheiten strikt umzusetzen. Folgende Faktoren sind dabei zu berücksichtigen:
Personale Stetigkeit: Die Demenzkranken müssen mit allen Mitarbeitern aus der Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft vertraut sein. Es braucht in der Regel 14 Tage Kontakt bei der Pflege oder Betreuung, dann sind die Personen bei den Demenzkranken im Langzeitgedächtnis verinnerlicht (Athlin et al. 1987). Konkret bedeutet das, dass die Bezugs- oder Gruppenpflege das Kernprinzip der Demenzpflege und Demenzbetreuung ist. Und die Mitarbeiter sollten auf die Unveränderbarkeit ihres Äußeren bei der Pflege und Betreuung achten.
Handlungsstetigkeit bei der Pflege und Betreuung und Stetigkeit in der Tagesstruktur im Sinne einer Ritualisierung: Bei diesen Strategien können Demenzkranke das ausreichende Empfinden von Sicherheit auf der Grundlage von Vorhersehbarkeit allen Geschehens entwickeln (Sachweh 2008: 227). Immer die gleiche Abfolge der Handlungsschritte am gleichen Ort zur gleichen Zeit ähnlich einem ständigen Kreislauf, das ist der Idealzustand für die Betroffenen.
Milieustetigkeit im Sinne der Unveränderlichkeit der räumlichen Umwelt sowohl bei den Bewohnerzimmern als auch in den Gemeinschaftsräumlichkeiten gehört ebenfalls zum Pflichtprogramm in der Lebensweltgestaltung Demenzkranker. Ein Tipp: das Filmen des kompletten Wohnbereichs ohne Personen per Smartphone und anschließende Weitersendung an alle Mitwirkende (Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft) als gemeinsame Grundlage für die Gewährleistung der Milieustetigkeit.
Für die stationäre Pflege und Betreuung Demenzkranker gilt die Grundregel, dass die Einrichtung die Stetigkeit bei allen Gegebenheiten als Leistungsangebot vorhält. Die Demenzkranken bestimmen aufgrund ihrer Befindlichkeiten (u. a. Tagesform, biografisch geprägte Verhaltensmuster und Gewohnheiten) die jeweiligen Abweichungen in der konkreten Lebensgestaltung.
Literatur
- Athlin, E. et al. (1987) Caregivers attitudes to and interpretations of the behaviour of severely demented during feeding in a patient assignement care system. International Journal of Nursing Studies, 24 (2): 145–153.
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Markowitsch, H.J. et al. (2006) Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta (2. Auflage).
- Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber.
- Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer.
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.
…da kann ich mich nur anschließen, dass Thema ‚Gewöhnung‘ an Rituale und Personen war mir schon klar und auch Inhalt von Schulungen, dass es so ‚Kleinigkeiten‘ sind, ist sehr spannend, wissenswert und hilfreich.
Ich werde das neu mit in meine Fortbildungen aufnehmen. da heute oft Mitarbeiter wechseln, wegen Krankheit ect. ist es für die Teams unerlässlich sich zu besprechen und abzustimmen wer am Vortag z. B. bei Frau Müller war. Absprachen müssen erfolgen bzgl. Ähnlichkeiten wie Brille, Haarzopf ja oder nein usw. auch Schlüsselwörter bzw. Biographiehinweise wären hilfreich. Das in kurzen Worten.
Wie wichtig das ist wird hier deutlich. Habe da vorher auch nicht so expliziet nachgedacht. Werde das aufnehmen und auch Schulen!
Herzlichen Dank