Die Vermeidung tätlicher Übergriffe aufgrund von wahnhaften Verkennungen bei der Pflege ist der Inhalt des 19. Blogs. Die erforderlichen Umgangsformen werden beschrieben und die neurowissenschaftlichen Zusammenhänge erläutert.
Wie bereits in Blog 14 ausgeführt wurde, handelt es sich bei der Körperpflege um ein extrem belastendes Handlungsgefüge für die Demenzkranken und ebenso auch für die Pflegenden. Realisieren lassen sich diese intensiven Interventionen in der Regel meist nur mithilfe wirksamer Ablenkungsstrategien („Doppelstrategien“). Doch im Pflegealltag unterlaufen Pflegenden in der Hektik manchmal Fehlhandlungen, die zur Unterbrechung und oft zur Verweigerung des Pflegeprozesses führen können. Und noch belastender für die Pflegenden ist der Umstand, dass diese Unaufmerksamkeiten im Umgang mit den Demenzkranken wahnhafte Verkennungen verursachen können, die oft mit Tätlichkeiten gegenüber den Pflegenden verbunden sind. In den folgenden Negativbeispielen wird gezeigt, wie leicht Demenzkranke in den Wahn getrieben werden, wobei dann meist tätlich aggressives Handeln die Folge ist.
Unterbrechung
Negativbeispiel 1: Eine Pflegende unterbricht die Pflegehandlung, indem sie sich umdreht, um ein fehlendes Kleidungsstück aus dem Schrank zu holen. Sie wendet dabei der Bewohnerin den Rücken zu. Diese versetzt ihr einen Schlag auf den Rücken. Die Pflegekraft interpretierte diesen tätlichen Angriff dahingehend, dass die Bewohnerin vermutete, man würde sie bestehlen (Lind 2007: 157).
Negativbeispiel 2: Eine Pflegende musste die Pflegehandlung unterbrechen, da ein Kleidungsstück fehlte. Als sie zur Bewohnerin zurückkehrte, war diese so erregt und aggressiv, dass die Pflegehandlung nicht mehr weitergeführt werden konnte (Lind 2007: 157).
Die Unterbrechung des Pflegeprozesses löste bei den Betroffenen ein massives Überforderungsverhalten aus, das im ersten Beispiel zu einer wahnhaften Verkennung führte, denn die Bewohnerin hielt die Pflegende in diesem Moment für eine Diebin. Auch Kleinkinder reagieren mit massivem Stressverhalten, wenn eine vertraute Handlung plötzlich unterbrochen wird (Siegler et al. 2016).
Neurowissenschaftlich lässt sich diese Überstressreaktion mit dem plötzlichen Abbruch einer mit Beruhigungsreizen begleiteten Interaktion erklären. Denn hierdurch sind die Betroffenen plötzlich mit dem Verlust ihres Sicherheitsnetzes „Beruhigungsimpulse“ konfrontiert, die seitens der Pflegenden ständig ausgeübt werden. Diese überfordernde Situation können sie nicht mehr aufgrund der fehlenden Selbstregulierungskapazitäten angemessen verarbeiten. Entsprechend reagieren sie reflexartig mit Wahn bzw. Aggression.
Wahn und Aggression bilden bei Demenzkranken einen engen Zusammenhang, denn in den meisten Fällen (ca. 90 Prozent) geht der tätlichen Aggression gegenüber den Pflegenden eine wahnhafte Verkennung bzw. ein belastende Halluzination voraus (Deutsch et al. 1991). Das heißt konkret, dass ein starkes Überforderungserleben fast umgehend zu einem massiven Realitätsverlust führt. Der „Wahn-Schalter“ wird hierbei somit schnell und zugleich automatisch aktiviert. Erklärt werden kann dieses für Demenzen charakteristische Überstressverhalten mit den fehlenden, bereits abgebauten Regulativmechanismen zur Beruhigung und Relativierung im Frontallappen der Großhirnrinde. Wahn, Aggression und auch das Panikverhalten können demzufolge als krankhafte Minder- und Fehlleistungen in der Verarbeitung von Reizgefügen der Umwelt interpretiert werden (siehe hierzu Blog 2).
Für die Pflege Demenzkranker sollten aufgrund dieses Sachverhaltes und zugleich Gefahrenpotentials u. a. die folgenden Regeln beachtet werden:
- Vermeidung einer Pflegeunterbrechung durch gute Vorbereitung der Pflege: u. a. Pflegeutensilien, Kleidung etc. sollten bereit liegen, Milieufaktoren in Gestalt von Störungen oder Ablenkungen beachtet werden.
- Falls die Pflege aufgrund fehlender Utensilien nicht fortgesetzt werden kann, erst an die Befindlichkeit des Bewohners denken, ihn möglichst weiterhin beruhigen und dabei pflegerisch improvisieren. Der Kerngedanke hierbei lautet, dass keine psychisch nicht zu bewältigende Unterbrechung verbunden mit aufkommender Überforderung und entsprechender Desorientierung entstehen sollte.
Unvorbereitetes Eindringen in den Nahbereich
Negativbeispiel 3: Eine Pflegende bemerkte zufällig, dass bei einer im Rollstuhl sitzenden demenzkranken Bewohnerin die Schnürsenkel nicht geschnürt waren. Spontan bückte sie sich und machte sich daran, die Schnürsenkel zu verknoten. In diesem Moment erhielt sie von der Bewohnerin Schläge auf den Kopf und auf die Schulter (Lind 2011: 74).
In dieser Situation geriet die Bewohnerin in Panik und Furcht, denn sie konnte sich diese Handlung nicht erklären und vermutete demnach bereits Gefahren (Diebstahl der Schuhe oder ähnliches). Auch hier wurde reflexartig der „Wahn-Schalter“ aktiviert mit der Folge eines tätlichen Angriffs.
In diesem Beispiel liegen zwei Fehler im Umgang mit Demenzkranken vor. Erstens: Das plötzliche und damit unvorbereitete Eindringen in den Nahbereich des Erkrankten. Und zweitens: Dieses Eindringen kann als reflexartiges primär empathisches Verhalten seitens der Pflegenden interpretiert werden, das in der Demenzpflege fast immer zu Überforderungsreaktionen bei den Demenzkranken führt. Somit gilt es, bei der Pflege im Nahbereich, nicht immer spontan, sondern auch überlegt zu handeln (kognitive Empathie) (Lind 2011: 73f).
Konsequenzen für die Pflege
Tätliche Gewalt gegenüber Pflegenden seitens Demenzkranker meist bei der Körperpflege ist ein alltägliches Phänomen in der Demenzpflege. Viele Studien belegen diesen Sachverhalt. Diese Gewalt belastet und verunsichert viele Pflegende im Umgang mit Demenzkranken. Sie zeigen dann oft ein Vermeidungs- und Rückzugsverhalten den Demenzkranken gegenüber, das aufgrund ihrer Erfahrung mehr als verständlich ist (Zeller et al. 2013).
In der Ausbildung, Fort- und Weiterbildung der Pflegenden sollte daher ein Schwerpunkt auf die Vermeidung dieser Gewalt gelegt werden. Besonders hervorgehoben werden sollte hierbei dann der Zusammenhang von Wahnverhalten und tätlicher Gewalt. Von zentraler Bedeutung hierbei ist der Augenkontakt. Spontane Kontaktaufnahmen im unmittelbaren Nahbereich der Demenzkranken sollten möglichst mittels Augenkontakt hergestellt werden. Dies hat einen doppelten Effekt, denn einerseits wird die Aufmerksamkeit des Gegenübers gebunden: er bemerkt das vertraute Gesicht und ist hierdurch zusätzlich beruhigt. Andererseits können die Pflegenden durch den Augenkontakt den beginnenden Realitätsverlust der Demenzkranken erkennen, der sich meist in der veränderten Mimik ausdrückt. Der Blick wird starr und erhält eine auffallende Intensität („maskenartiges Wahngesicht“). In diesem Moment kann noch angemessen durch Rückzugverhalten reagiert werden. Somit lassen sich dann tätliche Angriffe oft vermeiden (Lind 2011: 76).
Literatur
- Deutsch, L. H. et al. (1991) Psychosis and physical aggression in probable Alzheimer’s disease. American Journal of Psychiatry, 148, 1159 – 1163
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer
- Zeller, A. et al. (2013) Erfahrungen und Umgang der Pflegenden mit aggressivem Verhalten von Bewohner(inne)n: eine deskriptive Querschnittstudie in Schweizer Pflegeheimen. Pflege: 26 (5): 321 – 335
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.
Hier gilt es das Sprichwort „Aus den Augen aus den Sinn“ zu erweitern: „Aus den Ohren aus dem Sinn“. Das heißt u. a., dass eine akustische Beruhigung mit sanften Worten auch zur Stressregulierung beitragen kann. Entscheidend ist hier, dass eine Kontinuität in der Darbietung von positiven Reizen – Worte oder Blicke – gewährleistet wird.
Herzlichen Dank für Ihre Blogs. Sie geben mir immer wieder Anregungen für Themen zur Teambesprechung unserer Ehrenamtlichen Betreuungshelfern .
Ich gebe Ihre Blogs auch als Information an unsere Mitarbeitenden weiter. Hierzu dann eine Rückfrage: wenn ich Unterbrechungen in der Pflege nicht vermeiden kann und, wie Sie im Blog empfehlen, improvisieren soll, was wäre dann, außer der Herstellung eines Augenkontaktes bevor es mit der Pflege weitergeht, eine gelungene Improvisation?
Herzlichen Dank für Ihre Rückmeldung.