Funktionen der Demenzwelt und der Milieugestaltung

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Das Zusammenwirken der verschiedenen Milieuelemente der Demenzwelt ist der Inhalt des 24. Blogs. Es werden die verschiedenen Wirkmechanismen und Interdependenzen der Gestaltung einer demenzsensiblen Lebenswelt aufgezeigt.

Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium können sich in der Regel bei auftretender Unruhe, Furcht oder Unbehagen nicht mehr selbst psychisch stabilisieren im Sinne von Beruhigung und Ablenkung. Sie sind somit emotional hilflos und damit zugleich auch schutzbedürftig, fehlen doch die unbewussten Regulationspotentiale aufgrund des neurodegenerativen Abbauprozesses. Der Demenzwelt obliegt nun bei diesen Gegebenheiten fehlender Kompetenzen der Selbstberuhigung Schutz- und Stabilisierungsfunktionen für die Hilf- und Schutzlosen zu gestalten. Hier kommt das Kompensationsprinzip der Demenzpflege zur Wirkung, demnach Defizite in der Umweltbewältigung durch gezielte Reizkonstellationen der Pflege, Betreuung und des Milieus ausgeglichen werden.

Die Gestaltung des Demenzmilieus in seiner Vielschichtigkeit (siehe Blog 23) gleicht der Herstellung eines Schutzschildes im Sinne der Vermittlung von Empfindungen der Sicherheit und Geborgenheit. Die im Folgenden angeführten Zwischenabhängigkeiten der unterschiedlichen Milieuelemente verdeutlichen die zentrale Bedeutung dieser Wirkfaktoren für das psychosoziale Gleichgewicht der Demenzkranken (Lind 2011).

Die gegenseitige Beeinflussung der Milieuelemente

Das Modell der wechselseitigen Beeinflussung der Milieuelemente beruht auf den Erfahrungen, dass zwischen den Pflege-, sozialen und räumlich-physikalischen Milieu Abhängigkeitsverhältnisse bestehen. Diese Milieuelemente zusammen bilden die Lebenswelt der Demenzkranken in ihrer Ganzheitlichkeit. Sie können somit als Teilelemente eines Systems Umwelt aufgefasst werden, das sich durch das abgestimmte Zusammenwirken seiner Teile erst zu einem demenzspezifischen Milieu mit positiven Auswirkungen auf die Betroffenen entwickeln kann.

Die folgenden Wirkmechanismen sind für die Gestaltung einer angemessenen Lebenswelt für Demenzkranke von besonderer Bedeutung (Lind 2011):

  • das Prinzip der gegenseitigen positiven und negativen Beeinflussung
  • das Prinzip der gegenseitigen Ergänzung
  • das Prinzip der abgestuften Wirkungsweisen.

Das Prinzip der gegenseitigen positiven und negativen Beeinflussung

Erfahrungen aus den Heimen zeugen deutlich, dass sich die Qualität eines Milieuelementes sowohl positiv als auch negativ auf die anderen Milieuelemente auswirkt. Konkret bedeutet dies, dass wenn in einem Milieuelement durch unterschiedliche Impulse Belastungen entstehen, diese sich auf die anschließende Milieuphase übertragen. Wenn z. B. bei der Morgenpflege Empfindungen des Wohlbefindens hervorgerufen werden können, dann wird diese Stimmung mit in die folgende Milieuphase der sozialen Anregung und Beschäftigung hineingetragen. Wenn hingegen die Morgenpflege mit Hektik und Stress verbunden ist, dann kann oft in der nachfolgenden Phase des sozialen Milieus dieses starke Belastungserleben der Betroffenen nicht aufgefangen und positiv beeinflusst werden. Anstatt z. B. an einer Gruppenbeschäftigung teilzunehmen, sind die Demenzkranken nach einer Belastungspflege aufgewühlt. Dies zeigt sich z. B. in massiver Unruhe (ständiges Wandern u. a.) oder in einem Rückzugsverhalten.

Diese Reaktionsweisen Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium verweisen auf eine demenzspezifische Symptomatik:

  • Emotionale Elemente wie Stimmungen und Stresserleben bleiben bei den Demenzkranken länger haften. Sie werden also über die verursachende Situation oder Handlung hinaus in die zeitlich nachfolgende Phase übertragen. Dieser Sachverhalt wird als Generalisierungsfaktor bezeichnet.
  • Der konkrete Anlass für das Stresserleben, z. B. eine belastende „Hektikpflege“, selbst hingegen wird schnell vergessen. Sie wissen also anschließend gar nicht mehr, aus welchem Grunde sie froh gestimmt oder gestresst sind.

Dieser Sachverhalt ist für die Pflege und Betreuung Demenzkranker von größter Bedeutung, denn hierdurch wird die gängige Vorstellung „das hat die doch gleich wieder vergessen“ mit entsprechenden Umgangsformen widerlegt. In der Fortbildung gilt es diesen Faktor hervorzuheben, dass das Kurzzeitgedächtnis zwar stark beeinträchtigt ist, das emotionale Gedächtnis hingegen länger besteht (Lind 2011).

Das Prinzip der gegenseitigen Ergänzung

Das Prinzip der gegenseitigen Ergänzung besagt, dass alle drei Milieuelemente zusammen für die Gestaltung der Lebenswelt erforderlich sind. Es müssen also alle drei Dimensionen vorhanden sein, andernfalls drohen Stress und Überforderung bei den Demenzkranken. Intensive personale Zuwendungen wie Pflegehandlungen in Kombination mit anschließenden anleitenden und anregenden Beschäftigungen in einer räumlich vertrauten Umgebung bilden die Hauptkomponenten eines Milieus, das vorrangig auf den Ausgleich der geistigen und praktischen Minder- und Fehlleistungen der Betroffenen ausgerichtet ist. Der Ausfall oder Verzicht eines Milieuelementes führt unweigerlich zu demenzspezifischen Verhaltensweisen der Überforderung und Belastung. Folgende Verhaltensweisen sind u. a. beim Ausfall von Betreuungsangeboten in den Zwischenphasen beobachtet worden:

  • verstärkte Unruhe, Verunsicherung und an Apathie grenzendes Rückzugsverhalten
  • rastloses Wandern und Verlassen des Wohnbereiches und der Einrichtung
  • Rufen, Klopfen, Sammeltrieb, Stühle schieben u. a.
  • Konflikte unter den Bewohnern
  • negative Auswirkungen auf das Ess- und Trinkverhalten.

Doch nicht nur das Fehlen eines Milieuelementes führt zu Überforderung und Stress. Manchmal reicht auch schon die unzureichende Ausgestaltung des Milieuelementes Raumstruktur aus, um Empfindungen von Fremdheit und Belastung hervorzurufen. Studien über das Essverhalten in Bezug auf die Vertrautheit der Räumlichkeiten können hier als Beleg angeführt werden (Elmstahl et al. 1987, Minde et al. 1990).

Für die Arbeitsorganisation im Pflegeheim ist hierbei vor allem hervorzuheben, dass alle pflegenden und betreuenden Tätigkeiten für die Gestaltung der Lebenswelt notwendig sind. Pflegeleistungen können nur angemessen erbracht werden, wenn ausreichende Betreuungsleistungen in den Zwischenphasen zur deutlichen Minderung des Belastungsverhaltens beitragen. Wenn dieser Sachverhalt bei allen Mitarbeitergruppen verinnerlicht ist, lassen sich manchmal zu beobachtende Spannungen zwischen den unterschiedlichen Berufsgruppen reduzieren (Lind 2011).

Das Prinzip der abgestuften Wirkungsweisen

Pflege- und Betreuungshandlungen beeinflussen sich gegenseitig im positiven wie auch im negativen Sinne, wie bereits weiter oben ausgeführt wurde. Beide Milieuelemente sind für die Gestaltung der Lebenswelt Demenzkranker erforderlich und somit notwendig, doch sie unterscheiden sich zugleich in ihrer Gewichtung als potentielle Stressfaktoren. Die Körper- oder Grundpflege Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium ist immer zugleich mit einem massiven Stressfaktor für die Betroffenen verbunden (siehe Blog 21). Betreuungs- und Aktivierungsangebote hingegen sind im Gegenteil meist nicht mit Stress, sondern eher mit Freude und Wohlbefinden verbunden. Bei der Planung der Tagesstrukturierung gilt es diesen Sachverhalt des unterschiedlichen Stressaufkommens organisatorisch ausreichend zu berücksichtigen (Lind 2011).

Konsequenzen für die Praxis

Die Demenzweltgestaltung ist ein komplexes und auch ein leicht zerbrechliches Gefüge mit einer vielschichtigen Dynamik. So braucht es manchmal nur das Geschrei eines Bewohners, die Streiterei zweier Bewohner um eine bequeme Sitzgelegenheit oder der starke Wanderdrang einer Demenzkranken, dass ein Milieu sich plötzlich völlig verändert. Doch berufserfahrene Pflegende und Betreuende haben derartige Milieuturbulenzen meist schnell im Griff. Mehr noch, je besser sie die Bewohner in ihren recht überschaubaren Verhaltensmustern kennen, umso eher greifen sie präventiv bereits im Vorfeld dergestalt ein, dass es erst gar nicht zu diesen Milieustörungen kommen kann.

Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium sind zwar kognitiv massiv beeinträchtigt, doch ihre emotionalen Wahrnehmungen, ihr emotionales Empfinden oder umgangssprachlich ihre „sensiblen Antennen“ sind noch intakt. Neurowissenschaftlich lässt sich dieser Sachverhalt damit erklären, dass die Hirnareale für das emotionale Geschehen (limbisches System, Amygdala) auch im schweren Stadium noch relativ gut funktionsfähig sind. Damit lässt sich dann auch die gut erhaltende Milieusensibilität der Demenzkranken erklären.

Für die Pflegenden und Betreuenden und auch für die Mitarbeiter der Hauswirtschaft bedeuten diese Kompetenzen im zwischenmenschlichen Miteinander der Demenzkranken möglichst im Nahbereich der Betroffenen zu sein. Denn es gilt hier zu beobachten, zu lenken und oft auch einzugreifen. Manchmal heißt es auch zu separieren. Das bedeutet zum Beispiel in konkreten Fällen, dass ein milieustörender Bewohner in sein Zimmer gebracht wird. Es gibt in den Heimen kein Recht auf Milieustörungen durch Schreien etc. mit der impliziten Aufforderung, die Mitbewohner sollten derartiges Verhalten tolerieren. Jede massive Milieustörung führt zu Überforderungs- und damit zu einem Stressverhalten der hierdurch Beeinträchtigten. Ständige Milieubeeinträchtigungen sind langfristig mit deutlichen Gesundheitseinbußen verbunden. Die Unversehrtheit der Bewohner kann bei derartigen Milieustörungen nicht gewährleistet werden.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Demenzlebensweltgestaltung im Sinne einer demenztypischen und auch demenzsensiblen Milieustabilisierung ein Kernelement der Demenzpflege und Demenzbetreuung ist. Sie ist das integrale und übergreifende Element, das alle Teilsegmente der Pflege, Betreuung und Hauswirtschaft zu einem Ganzen zusammenfügt. In diesem Gefüge können Wohlbefinden, Sicherheit und Geborgenheit erlebt und empfunden werden.

Literatur

  • Elmstahl, S. et al. (1987) Hospital nutrition in geriatric long-term care medicine. 1. Effects of a changed meal environment. Comprehensive Gerontology, 1: 28–33.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Minde, R. et al. (1990) The ward milieu and its effects on the behaviors of psychogeriatric patient. Canadian Journal of Psychiatry, 35: 133–138.
  • Schlagworte: Demenzweltgestaltung, Milieu

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Ein Gedanke zu “Funktionen der Demenzwelt und der Milieugestaltung”

  1. Hat mir richtig gut gefallen. Was in den Heimen noch gefördert werden muss ist die Übergabe zwischen Pflege, Hauswirtschaft und Betreuung. Oder ein Übergabebuch in dem Besonderheiten oder Geschehnisse weitergegeben werden, d. h. die Besonderheiten müssen erfasst und weitergegeben werden. z. B. kann laute Geräusche nicht ertragen.
    Eine Frage habe ich noch. Ab wann empfindet das Kind ein Ekelgefühl gegenüber seinen Ausscheidungen?
    Schonen Abend und viele Grüsse
    Annelie Gilles

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