Pflegeermöglichungsstrategien

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Pflegeermöglichungsstrategien mittels Ablenkung sind die Inhalte des 27. Blogs. Hierbei werden neuere teils pflegeerleichternde Umgangsformen vorgestellt.

In Blog 26 sind die Pflegeprinzipien Konditionierung und biographische Stetigkeit dargestellt worden. Pflegeprinzipien als Kernelemente der Demenzpflege sind Regelmäßigkeiten ähnlich Gesetzmäßigkeiten, die sich aus den Handlungs- und Verarbeitungsmustern Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium ableiten lassen. Es handelt sich somit bei der Konditionierung und der biographischen Stetigkeit um Regulationsmechanismen der Außenreize gemäß dem Prinzip der Anpassung an die Verarbeitungskapazitäten der Demenzkranken.

Neben diesen Pflegeprinzipien sind Pflegeermöglichungsstrategien wesentliche Bestandteile der Demenzpflege. Bei den Pflegeermöglichungsstrategien handelt es sich um ein Spektrum von Umgangsformen mit dem Ziel, die Pflege überhaupt praktizieren bzw. deutlich erleichtern zu können. Pflegeermöglichungsstrategien werden somit in der Regel nur dann angewendet, wenn die Pflege Demenzkranken Schwierigkeiten im Sinne einer psychischen Überforderung bereitet. Folgende Pflegeermöglichungsstrategien sind bereits in den bisherigen Blogs dargestellt worden: Ablenkungs- bzw. Doppelstrategien (Blog 14), Reizregulation (Blog 15), Verstärkungsstrategien (Blog 17), Nachahmung (Blog 18) und stadienbezogene Umgangsformen (Blog 20).

Pflegeermöglichung anhand von Ablenkungsstrategien

Im Folgenden werden anhand konkreter Beispiele Pflegeermöglichungsstrategien der Ablenkung dargestellt. Hierbei handelt es sich um Fallbeispiele von Blogleserinnen, die erst in den letzten Wochen im Blog gepostet wurden (Annelie Gilles und Martina Rühl).

Mehrere Ablenkungsmöglichkeiten

Beispiel 1: Eine Demenzkranke im schwersten Stadium (Immobilität) wehrte sich vehement gegen das Einsetzen der Prothese und die Intimpflege (Schreien und Kratzen). Als Ablenkung wurde ihr daraufhin ein Stofftier in die Hand gedrückt. Sie biss in das „Lämmchen“ und warf es anschließend weg. Eine anwesende Pflegende fing nun an zu summen („Summ summ summ – Bienchen summ herum“). Die Demenzkranke wurde aufmerksam, hob den Kopf, um die Sängerin zu sehen. Anschließend ließ sie sich das Gebiss ohne Gegenwehr einsetzten. (Annelie Gilles – Kommentar zu Blog 23 vom 26.04.2020)

Das Beispiel zeigt, dass es von Vorteil sein kann, über mehrere Strategien zur Ablenkung und Beruhigung zu verfügen. Und von Bedeutung ist hier auch der Sachverhalt, dass Summen auch eine Beruhigungs- und Ablenkungsstrategie sein kann. Das ist dahingehend wichtig, weil einige Pflegende es nicht gewohnt sind und es sich vielleicht auch nicht zutrauen, bei der Pflege zu singen, aber sich vielleicht das Summen zutrauen (siehe Blog 14).

CD mit Schlagern als Ablenkungsstrategie

Beispiel 2: Eine Bewohnerin wehrte sich regelmäßig gegen pflegerische Handlungen, indem sie die Pflegekraft mit den Händen weg schob und mehrfach „Nein, nein“ sagte. Als wir herausgefunden hatten, dass sie alte Schlager liebte, legten wir ihr vor der Pflege eine CD ein und während sie mit Hingabe „Liebeskummer lohnt sich nicht, my darling“ sang und im Takt die Hüften schwang, konnte man sie leiten, waschen und anziehen, ohne dass sie es registrierte. (Martina Rühl, Kommentar zu Blog 14 vom 10.04.2020)

Diese Ablenkung ist äußerst innovativ, da hier ein Medium (Musik per CD) eingesetzt wird. Bei bisherigen Ablenkungsmaßnahmen haben die Pflegenden entweder geredet oder ein bekanntes Lied teils zusammen mit den Demenzkranken gesungen. Wenn nun vertraute Musik wie hier die alten Schlager per CD ebenso als Ablenkung wirksam ist, dann sollte diese Ablenkungsstrategie in Fortbildungsveranstaltung als wirksame Praxiserfahrung vermittelt werden. Dies ist dahingehend von Bedeutung, da manchmal Pflegende zum Singen nicht in der Lage oder vielleicht auch nicht in der Stimmung dazu sind. Oder sie trauen sich das Singen einfach nicht zu.

Persönliche Verhaltensmuster als Ablenkungsstrategie

Beispiel 3: Eine Demenzkranke ekelte sich vor dem Essen, wenn es vor ihr stand und stocherte nur angewidert darin herum, ohne etwas zu sich zu nehmen. Natürlich boten wir ihr unterschiedliche Dinge an, aber es war immer dasselbe. Was sie liebte, war, aus dem Fenster zu schauen und draußen die Leute, Autos und alles, was sich sonst dort bewegte, zu beobachten. Daraufhin zogen wir uns zu den Mahlzeiten mit ihr in ihr Zimmer zurück, setzten sie in ihren Sessel vor das große Fenster und während sie mit großem Interesse alles verfolgte, was draußen vor sich ging, konnte man ihr nach und nach die Mahlzeiten anreichen (Martina Rühl – Kommentar zu Blog 14 vom 10.04.2020).

Dieses Beispiel ist dahingehend recht innovativ, da hier eine Pflegehandlung an eine von der Betroffenen bevorzugten Handlungsweise angepasst wurde, indem u. a. auch die Milieuumstände gemäß dem Interesse der Demenzkranken geändert wurden (Mahlzeiteneinnahme im Zimmer). Dieses Beispiel zeigt recht deutlich, dass Demenzpflege immer auch Anpassungspflege ist.

Ablenkung mittels der Strategie „fiktive Mahlzeiteneinnahme“

Wie in Blog 14 gezeigt wurde, sind Demenzkranke bei Pflegehandlungen oft überfordert oder nicht so recht bei der Sache, so dass die Pflege sich schwierig gestaltet. Diesbezüglich wurde ihnen dann zur Ablenkung eigenes Handeln nahegelegt (Konzept „fiktive Selbstpflege“). Dass dieses Vorgehen auch bei der Mahlzeiteneinnahme wirksam praktiziert werden kann, zeigt das folgende Beispiel:

Beispiel 4: Eine Bewohnerin zeigte sich bei der Mahlzeiteneinnahme immer unwillig und abgelenkt, so dass sich die Prozedur für beide Beteiligten meist recht belastend gestaltete. Um dieses Geschehen zu verbessern, brachte die Pflegende daraufhin einen zweiten Löffel mit, den sie der Demenzkranken mit der Aufforderung in die Hand drückte, dass sie nun selbst essen könne. Während nun die Betroffene mit dem Löffel herummantschte, wurde sie gleichzeitig recht zügig jedoch ohne Hast von der Pflegenden gefüttert (persönliche Mitteilung).

Interessant an diesem Beispiel ist der Sachverhalt, dass hier die Pflegende einen zweiten Löffel zusätzlich in den Pflegeprozess einführte, damit die Demenzkranke ihre motorische Unruhe kanalisieren konnte und zugleich von der Mahlzeiteneinnahme abgelenkt war.

Konsequenzen für die Praxis

Die vorliegenden Beispiele sind Ergänzungen zum Blog 14. Sie zeigen, wie komplex und umfangreich das Verhaltensspektrum Ablenken im Bereich der Demenzpflege und der Demenzbetreuung sich gestalten lässt. Es handelt sich beim Ablenken um eine angeborene Verhaltensdisposition, also eine universelle Verhaltensweise (Lind 2007: 128, Lind 2011: 81). Ablenken und auch Beruhigen stehen hierbei in einem engen Zusammenhang mit dem Einfühlungsvermögen und dem intuitiven Verhalten. Der hohe Wirksamkeitsgrad ablenkenden Verhaltens bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium wird u. a. auch von der Unfähigkeit zur geteilten Aufmerksamkeit verursacht (siehe Blog 14).

Von Bedeutung bei den angeführten Beispielen ist auch der Sachverhalt der Vereinfachung bei den Strategien der Pflegeermöglichung, wenn z. B. Singen durch Summen oder eine CD ersetzt werden kann. In diesem Zusammenhang kann z. B. die Pflicht zum Singen bei der Pflege als pflegeerschwerend betrachtet werden. So wurden z. B. in Schweden Pflegende in einem Modellversuch angehalten und vorher auch geschult, Pflegeanweisungen bei der Pflege Demenzkranker singend zu kommunizieren (Hammar et al. 2011). Dieses Konzept kann unter Umständen als äußert pflegebelastend und damit kontraproduktiv für die Demenzpflege eingeschätzt werden, denn es gilt die Regel, die Pflege für die Mitarbeiter zu erleichtern und nicht zusätzlich zu erschweren (siehe Blog 22).

Literatur

  • Hammar, L. M. et al. (2011) Finding the key to communion – caregiver’s experience of ‚music therapeutic caregiving’ in dementia care: a qualitative analysis. Dementia 10(1) 98-111
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

2 Gedanken zu “Pflegeermöglichungsstrategien”

  1. Anmerkungen zum Kommentar:
    Im Blog 27 werden Umgangsformen der Ablenkung vorgestellt, damit den Demenzkranken das Unbehagen und die Furcht vor den bevorstehenden Pflegehandlungen genommen wird. Hier wird also von einem belastenden Außenreiz abgelenkt.
    Bei Ihrem Beispiel, die Beschäftigung eines ehemaligen leitenden Angestellten mittels Schreddern, handelt es sich ebenfalls um eine Ablenkung. Hier jedoch geht es um einen Binnen- oder Innenreiz auf der Grundlage von episodisch-prozeduralen Langzeitgedächtnisimpulsen, also eine „beeinflussbare spontane Desorientierung“ (siehe Blog 8 vom 12.01.2020).
    In beiden Fällen handelt es sich somit von der Funktion her um eine Ablenkung von einem Reizgefüge unterschiedlicher Herkunft. Jede wirksame Ablenkung von einem äußeren oder inneren belastenden Reizgefüge ist eine positive Beeinflussung des Gefühlslebens der Demenzkranken und somit zugleich auch ein „nicht-medikamentöses“ Therapeutikum.
    Das „psychobiografische Modell“ und auch das Modell „Validation“ lassen sich hingegen nicht mit den Erfahrungen einer wirksamen Demenzpflege und dem Wissensstand der entsprechenden Neurowissenschaften vereinbaren. Dass es sich hierbei letztlich um Fehlentwicklungen im Umgang mit Demenzkranken handelt, konnte bereits nachgewiesen werden. Siehe hierzu u. a. die Buchbesprechungen:
    Naomi Feil: Validation (2000) Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. Ernst Reinhardt Verlag (München) 6. Auflage – Rezension in: http://www.socialnet.de/rezensionen/260.php

    Erwin Böhm (2004) Psychobiographisches Pflegemodell nach Böhm. 2 Bände. Wien: Verlag Wilhelm Maudrich – Rezension in: Zeitschrift für Gerontopsychologie & -psychiatrie, 19 (2006), 2, 115. (Interessierte an dieser Rezension werden gebeten, eine E-Mail an sven.lind@web.de mit dem Vermerk „nur für den persönlichen Gebrauch“ zu senden.)

  2. Grundsätzlich gebe ich auch heute Ihrem Beitrag wieder recht. Sicherlich lässt sich bei dementiell erkrankten Personen einiges bewirken, wenn man biographieorientiert auf sie eingeht. Was mich allerdings in Ihrem Beitrag stört ist das Wort „Ablenkung“. Wenn ich als Pflegekraft einen dementen Bewohner „ablenke“, so gehe ich in diesem Moment nicht wesentlich auf seine Gefühlswelt ein und bewirke damit lediglich einen kurzfristigen Erfolg, sein Gefühl wird dennoch bleiben und er wird schnell wieder in die vorherigen Verhaltensweisen zurück fallen. Möchte ich langfristig etwas bewirken, so muss man mit Biographie und verschiedenen Konzepten wie z.B das psychobiographische Modell nach E. Böhm oder Validation auf das Gefühl des Bewohners eingehen und versuchen, in seinen Schuhen ein Stück seines Weges mitzugehen. Nur so kann ich ein anderes, oft positives Gefühl in ihm wecken, dass er wahrgenommen wird und sich so führen lässt. Das Ausstrahlen und Ruhe und Verständnis der Pflegekraft ist sicherlich genauso wichtig.
    Hier ein Bsp. aus meiner Praxis: Ein dementiell erkrankter Herr hat sein Leben lang bei MAN gearbeitet und war dort Führungskraft. Sein ganzer Alltag auch in der Erkrankung bestand aus Formularen, Kopien, eben aus seiner Arbeitswelt. Desöfteren überkam ihm das Gefühl nun mit seiner Erkrankung nicht mehr wirksam zu sein, er wollte dann immer und immer wieder den Wohnbereich verlassen um zur Arbeit zu gehen. Wenn er an meinem Büro vorbei kam, bekam er immer „Arbeit“ von mir, in dem er Papiere shreddern durfte. Ich habe sein Gefühl aufgenommen und bin auf ihn eingegangen. Nach 10 Minuten konnte er problemlos auf den Wohnbereich zurück gebracht werden, mit einem positiven Gefühl, nämlich was bewirkt zu haben – wirksam gewesen zu sein. Für den Rest des Tages war der Bewohner führbar und ausgeglichen.

    Dies sind oft sehr kleine „Aktionen“, die die Pflegekraft durchführen muss, um dem Bewohner diese gesuchte Anerkennung zu geben – damit wird aber enorm viel bewirkt. Drum brauchen wir weiterhin professionelle, einfallsreiche und kreative Pflegekräfte, die mit Freude und Herz arbeiten, denn nur so kann eine gute Pflege auf allen Ebenen für dementiell erkrankte Bewohner gewährleistet werden. Ein Rundumwissen, rund um den Ort, das Tagesgeschehen und die Professionalität des Berufes wird bei den Pflegekräften vorausgesetzt, nur so kann ein Alltag auf einer Demenzstation ein optimales Resultat darstellen.

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