Aus Alltäglichem ein freudiges Ereignis machen

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Pflegeermöglichung mittels positiver Perspektiven und Anregungen ist der Inhalt des 29. Blogs. Verschiedene Vorgehensweisen werden anhand konkreter Beispiele angeführt.

Körperpflege und Ankleiden ist in der Regel etwas äußerst banales und alltägliches. Es wird halt jeden Tag mit oder ohne Hilfestellung gemacht. Was für kognitiv nicht beeinträchtigte Personen eine Selbstverständlichkeit ist, regelrecht ein fast schon automatisiertes Verhaltensmuster, ist für Demenzkranke eine Geschehensfolge, die oft nicht so leicht gedanklich erfasst werden kann. Ritualisierte Regelmäßigkeit oder Rückgriff auf lebensgeschichtliche Verhaltensmuster (biographische Stetigkeit) bilden Brücken zu diesen Pflegehandlungen (Blog 26 und Blog 28), ebenso auch Strategien der Ablenkung (Blog 27). In diesem Blog nun geht es um Umgangsformen einer positiven Emotionalisierung des Ganzen. Umgangssprachlich lässt sich dies in dem Programm ausdrücken: Aus der Pflege wird ein freudiges Ereignis ähnlich einem Fest. Folgende Strategien wurden diesbezüglich bereits beschrieben:

  • Positive Impulse (u. a. Singen, Scherzen und Komplimente machen) (Blog 14)
  • Musik, Gerüche, vertraute Gegenstände (Blog 17)
  • Belohnungsanreize (Schokolade, Kekse u. a.) (Blog 17)
  • Stadienbezogene Umgangsformen (Schunkeln, Kraulen und Loben) (Blog 20)

Die nun angeführten Umgangsformen zur Erleichterung und Ermöglichung der Pflege können als Ergänzungen zu diesen Vorgehensweisen bezeichnet werden.

Perspektiven geben

Durch Perspektiven entstehen Aussichten, die das Leben verschönern. Dies trifft auch für Demenzkranke zu. Auch sie haben das Bedürfnis nach positiven Eindrücken und Erlebnissen, auch sie kennen noch das Gefühl der Vorfreude und Erwartung. Bei Demenzkranken kommt oft noch ein wichtiger Sachverhalt hinzu, der das Mittel „Perspektiven geben“ geradezu erforderlich macht: eine Begründung, warum man eigentlich morgens früh schon aufstehen sollte. Denn auch Demenzkranke neigen zur Bequemlichkeit. Pflegende haben diese Problematik eines fehlenden Grundes für das frühe Aufstehen meist intuitiv erkannt und durch die Entwicklung unterschiedlicher Perspektiven zu lösen verstanden.

Beispiele 1: die Perspektive Frühstück mit heißem Kaffee, frischen Brötchen und Konfitüre – der Besuch des Pfarrers oder des Arztes, der bald zur Visite erscheinen wird – der „Herr Pommerenke“, ein attraktiver Mitbewohner, der bereits am Frühstückstisch sitzt (Lind 2007: 141, Lind 2011: 88).

Diese Perspektiven sind meist von alltäglicher Natur und deshalb recht unbedeutend. Sie werden somit auch schnell wieder vergessen. Bedeutsame Perspektiven für die Demenzkranken wären z. B. der zu erwartende Besuch der Tochter oder des Sohnes. Diese Ankündigungen sollten nur dann gemacht werden, wenn auch mit dem Besuch gerechnet werden kann. Denn diese Aussagen bleiben bei den Betroffenen relativ recht lange haften und würden zu Verunsicherung und Enttäuschung führen, falls die angekündigten Personen nicht erscheinen. Neurowissenschaftlich lässt sich dieser Sachverhalt wie folgt erklären: Emotional starke Impulse wie der zu erwartende Besuch eines Angehörigen aktivieren im limbischen System die Emotionsareale (Amygdala u. a.) dergestalt, dass die demenztypischen Kurzzeitgedächtniseinbußen im Hippocampus für eine überdurchschnittlich längere Zeit deaktiviert werden. So war z. B. eine Demenzkranke in der Lage, ihren Besuchern im Heim zu berichten, dass eine Pflegende vor einigen Stunden einen „fremden Mann“ mit Vehemenz aus ihrem Zimmer vertrieben hätte (wahnhafte Halluzination, siehe Blog 9). In diesem Zusammenhang darf aber auch der Fall einer Demenzkranken angeführt werden, die oft nicht bereit war, sich trotz Aufforderung und Lockungen von der Klosettschüssel zu erheben. Hier wirkte dann nur noch die Ankündigung „der Jensi kommt“ (der Lieblingsneffe und ständige Besucher).

Umwidmung der Gegebenheiten

Bei pflegeresistenten und damit pflegeunwilligen Bewohnern haben sich auch Strategien der gedanklichen Umgestaltung des alltäglichen Geschehens in etwas Besonderes und Angenehmes bewährt, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Beispiel 2: Einer Demenzkranken, die Schwierigkeiten beim Ankleiden machte, wurde die Vorstellung vermittelt, sie wäre bei einer Kleideranprobe bei C&A und dürfte sich Kleider aussuchen (Persönliche Mitteilung).

Beispiel 3: Demenzkranke, die sich unwillig bezüglich des Wechsels der Windeln in der Nasszelle zeigen, werden mit dem Angebot dorthin gelockt, dass man dort gemeinsam neue Lippenstifte ausprobieren möchte. Die Nasszelle wird dann z. B. diesbezüglich als „Spiegelkabinett“ deklariert (Camp 205: 88, persönliche Mitteilung).

Bekannt ist bei diesen letzten beiden Beispielen leider nicht der Sachverhalt, ob es sich um gelegentliche Unwilligkeiten bei der Pflege handelt, auf die spontan reagiert wurde, oder ob es sich bereits um ritualisierte alltäglich auftretende Interaktionsformen handelt. Die Leserschaft wird gebeten, diesbezüglich ihre Erfahrungen mitzuteilen.

Ein weiteres Beispiel zu dieser Thematik „Umwidmung“:

Beispiel 4: Bei einigen Demenzkranken gab es Schwierigkeiten beim Einsetzen des Zahnersatzes. Hier wurde dann angekündigt, dass bald ein Foto der Bewohner gemacht werden würde. Ein Fotoapparat wurde diesbezüglich gezeigt. Dies überzeugte die Betroffenen. Sie ließen sich daraufhin ohne Gegenwehr den Zahnersatz einsetzen (Lind 2007: 141).

Neurowissenschaftliche Erklärung

Pflegeermöglichung auf der Grundlage positiver Perspektiven und Ereignisse lässt sich neurowissenschaftlich mit dem neurodegenerativen Abbauprozess dergestalt erklären, dass die Demenzkranken im schweren Stadium (Stadium 6 der Reisbergskalen) sich geistig auf dem Niveau von zwei bis vierjährigen Kindern befinden (Reisberg et al. 1999). Hier herrscht kindliche Naivität vor, gepaart mit Wünschen nach freudigen Ereignissen (Geschenke, Geburtstagsfeier, Weihnachten etc.). Diesen Umstand hat sich z. B. eine pflegende Angehörige zu Herzen genommen, indem sie jeden Tag mit ihrem demenzkranken Ehemann Geburtstag feiert:

Beispiel 5: „Jeden Morgen wenn wir aufstehen kommt er in die Küche und findet einen Geburtstagskuchen, eine Geburtstagskarte und ein Geschenk auf dem Küchentisch. Jeden Abend kann er die Kerzen ausblasen, seine Karte öffnen, den Kuchen schneiden und sein Geschenkpaket aufmachen.“ (Camp 2015: 42).

Dieses Beispiel kann als eine klassische Variante der Demenzweltgestaltung im häuslichen Bereich bezeichnet werden. Hier sind die Faktoren Tagesstrukturierung und Ritualisierung miteinander vereint. Das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit wird vermittelt, denn die morgendlichen und abendlichen Handlungen sind bekannt und damit vorhersehbar. Der Tag beginnt als „Geburtstag“ und der Tag endet als „Geburtstag“. Der Betroffene wird sich bestimmt wohlfühlen (siehe Blog 25).

Literatur

  • Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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