Prägungen und Gewohnheiten

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Pflegeermöglichung mittels Anpassung an Lebensgewohnheiten und damit Prägungen ist der Inhalt des 31. Blogs. Anhand verschiedener Beispiele werden die Grundprinzipien dieser Umgangsformen dargestellt.

Der Mensch ist in der Regel ein Gewohnheitstier. Familie, Arbeit, Milieu und einiges mehr prägen ihn in seinem Denken, Verhalten und Erwartungen. Die Macht der Gewohnheit kann manches regelrecht in Fleisch und Blut übergehen lassen. Doch vieles kann und muss manchmal auch verändert oder aufgegeben werden, wenn es die Umstände erfordern. Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium hingegen können diesbezüglich keinen Wandel mehr vornehmen, fehlen ihnen doch die hierfür erforderlichen neuronalen Kapazitäten aufgrund des Abbauprozesses. Prägungen und damit auch Gewohnheiten werden bei ihnen somit zu starren Verhaltensmustern, von denen sie sich in der Regel selbst nicht lösen können. Demenzpflege heißt nun, sich diesen Gegebenheiten anzupassen.

Um die Betroffenen erreichen zu können, muss man über ihr bisheriges Leben Bescheid wissen, wie in Blog 16 bereits beschrieben wurde. Denn Prägungen, Gewohnheiten und biografische Erfahrungen sind identisch. Die im Folgenden angeführten Vorgehensweisen können als Ergänzungen und Erweiterungen bezeichnet werden. Pflegeermöglichung in diesem Kontext bedeutet, sich den eingeprägten Gewohnheiten anzupassen, damit den Betroffenen durch Pflege und Betreuung geholfen werden kann. Andernfalls drohen Unsicherheit, Furcht und auch Pflegeverweigerung. Die folgenden Beispiele zeigen die Vielschichtigkeit dieser Krankheitssymptomatik und zugleich auch die entsprechenden Lösungs- und Umgangsstrategien.

Milieu und Jargon als Erkennungselemente

In Blog 16 wurde anhand von zwei Beispielen (Frau aus „verruchter Kneipe“ und ehemaliger Stahlarbeiter) aufgezeigt, dass die Betroffenen nur zur Pflege bereit waren, wenn man mit ihnen in ihrem vertrauten Jargon und Umgangston sprach. Anzügliche und schlüpfrige Worte und ein knapper Befehlston waren hier die Schlüsselreize für die Herstellung einer Kommunikation. Mittels der alltäglichen Umgangssprache konnten sie nicht erreicht werden. Hier fühlten sie sich einfach nicht angesprochen. Anbei weitere Beispiele:

Beispiel 1: Bei einer pflegeunwilligen Demenzkranken, die die Mitarbeiter mit Worten wie „Verpiss dich“ oder „Hau ab du Arschloch“ vertrieb, zog eine Pflegende ein altes, verschlissenes Kleid an, brachte ihre Haare durcheinander und sprach dann in dieser Verkleidung mit der Betroffenen in einem vulgären Dialekt (Cockney). So bezeichnete sie z. B. ihre Kolleginnen als „dumme dreckige Schweine und schlug vor, die anderen alle wegzuschicken und sich gemeinsam um das Problem zu kümmern.“ (Tanner 2018: 151).Die Demenzkranke ließ sich daraufhin pflegen.

Beispiele 2: Ein ehemaliger Soldat folgte nur den Aufforderungen der Pflegenden, wenn diese sich auf einen Schemel stellte und im harschen Befehlston die Anweisungen erteilte (persönliche Mitteilung). – Bei einem ehemaligen Fabrikarbeiter bedurfte es der Trillerpfeile, damit er wie von früher her gewohnt mit der Mahlzeit begann (Bowlby Sifton 2007).

Kleidung

Die Kleidung ist für die meisten Menschen von großer Bedeutung. Das gilt auch für Demenzkranke, auch sie legen Wert auf ihr Äußeres. Kleidungsstücke besitzen für Demenzkranke in besonderen Fällen darüber hinaus auch die Funktion eines Schlüsselreizes, wie folgendes Beispiel zeigt:

Beispiel 3: Einem Bewohner konnte man nie so richtig erklären, dass ein Spaziergang bevorstand. Die Worte sagten ihm gar nichts und er blickte die Pflegende nur fragend an. Setzte man ihm jedoch seinen Hut auf, den er immer außerhalb des Hauses trug, dann wusste er Bescheid (Lind 2007: 79).

Den Stellenwert der lebensgeschichtlich vertrauten Kleidung für Demenzkranke kann man auch deutlich erkennen, wenn hierauf keinerlei Rücksicht genommen wird. Die folgenden Negativbeispiele zeigen, wie unwohl sich die Betroffenen fühlen, wenn sie nicht ihre gewohnte Kleidung (die „zweite Haut“) tragen können:

Negativbeispiele 4: Ein Demenzkranker verhielt sich sehr unruhig als man ihm anstelle seiner vertrauten Kleidung (Hemd und Krawatte) ein Polohemd anzog. Die Unruhe verschwand augenblicklich, als er wieder Hemd und Krawatte tragen durfte (Bowlby Sifton 2007). – Eine Demenzkranke zog ihre Hosen immer wieder aus. Sie hatte früher ausschließlich Röcke getragen (persönliche Mitteilung).

Mahlzeiten

Auch beim Essen und den Mahlzeiten bilden sich im Laufe des Lebens Gewohnheiten heraus, die prägende Wirkung besitzen. Wie stark lebensgeschichtlich vertraute Nahrung Einfluss auf die Bereitschaft und das Ausmaß des Essens besitzt, konnte in einer Einrichtung in der Schweiz nachgewiesen werden:

Beispiel 5: Einer Gruppe von Demenzkranken wurden selbstgemachte Ravioli mit frischen Zutaten angeboten, während der zweiten Gruppe einfache, aber von früher her vertraute Büchsen-Ravioli vorgesetzt wurden. Der Erfolg des einfachen Büchsengerichtes war beeindruckend, denn es wurde die dreifache Menge gegessen und man lobte den Koch (Held et al. 2004: 75, zitiert in Lind 2011: 281).

Aber auch kleine Zwischenmahlzeiten und Süßigkeiten können prägend für die Betroffenen sein und besitzen damit Bedeutung für die Pflege und Betreuung:

Beispiele 6: Eine Demenzkranke war es gewohnt, nachts immer Grießbrei zu essen. – Einer anderen Demenzkranken wurde nachts bei auftretender Unruhe stets ein Keks zur Beruhigung gereicht. Dies hatte früher bereits ihre Mutter getan (persönliche Mitteilungen).

Beim Essen sollte neben den Lieblingsessen auch auf die Speisen geachtet werden, die aus unterschiedlichen Gründen strikt abgelehnt werden. So aß z. B. ein Demenzkranker grundsätzlich keine Suppen. Begründen konnte man diesen Sachverhalt mit den negativen Erfahrungen in der russischen Kriegsgefangenschaft. Denn dort gab es immer nur Suppen zu essen (Lind 2011: 281).

Möbel und Alltagsutensilien

Materielles wie Alltagsgegenstände und auch Möbelstücke können durch jahrelangen oder gar jahrzehntelangen Gebrauch Teil des Gewohnheits- und damit Prägungsspektrums werden. Das Verhalten ist dann mit diesen Gegenständen dergestalt verknüpft, dass Demenzkranke nur mittels dieser Dinge angemessen handeln können, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Beispiel 7: Eine Bewohnerin schlief nie in ihrem Bett, sondern legte sich immer auf das Sofa im Gemeinschaftszimmer. Angehörige berichteten, dass sie früher immer nur auf dem Sofa die Nacht verbrachte und somit das Schlafen im Bett gar nicht gewöhnt war (Lind 2007: 77).

Beispiel 8: Ein Demenzkranker trinkt nicht aus einer Tasse. Als bekannt wurde, dass er jahrzehntelang immer aus einem Emailbecher seinen Kaffee getrunken hatte, wurde ihm solch ein Trinkgefäß angeboten, aus dem er dann auch ohne Zögern trank (Lind 2011: 125).

Beispiele 9: Kein Frühstück ohne die Zeitung, die man gar mehr lesen kann. – Die Hausschuhe müssen in der Mitte vor dem Bett stehen, sonst kann nicht eingeschlafen werden – Die Geldbörse muss als Ritual zum Einschlafen deutlich sichtbar auf dem Nachtschrank liegen (persönliche Mitteilungen, Annelie Gilles).

Konsequenzen für die Praxis

Das Wort „die Macht der Gewohnheit“ entwickelt sich bei Demenzkranken zu einem Zwang dergestalt, dass man nur zu geprägten starren Verhaltensmustern fähig ist. Vergangenes bestimmt hierbei die Gegenwart, wobei bei den Betroffenen völlige Hilflosigkeit herrscht. Nur die Pflegenden und Betreuenden vermögen eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart u. a. mittels Einsatz wirksamer Schlüsselreize herzustellen, die zu einer ausreichenden und damit stressarmen Person-Umwelt-Passung führen kann.

Was ist nun erforderlich, um die Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart in der Lebenswelt Demenzkranker herzustellen? Es ist das Wissen um die Lebensumstände der Betroffenen, ihre Gewohnheiten, Vorlieben, Abneigungen, Verhaltensmuster und vieles mehr (siehe Blog 16). Wer dann dieses Wissen in ausreichendem Umfange besitzt, verfügt dann auch über die erforderlichen Beeinflussungsmodalitäten, um Demenzkranken Möglichkeiten zum Handeln, Gestalten und Mitwirken geben zu können (siehe Blog 13).

Und wie lässt sich dieses Wissen aneignen? Mit den Demenzkranken reden, die Demenzkranken beobachten, Biografisches wie Fotos, Ansichtskarten etc. auswerten, mit Angehörigen Biografiebögen ausfüllen, Angehörige bei besonderen Verhaltensweisen befragen , bei Kollegen nachfragen, die oft auch einiges wissen. All dieses Recherchieren kann letztlich dazu führen, das Verhalten der Demenzkranken nachzuvollziehen und damit zu verstehen (siehe auch Camp 2015: 29ff). Auf der Grundlage dieses Wissens wird die Pflege und Betreuung für alle Beteiligten leichter und damit auch entspannter werden.

Literatur

  • Bowlby Sifton, C. (2007) Das Demenz-Buch. Bern: Verlag Hans Huber
  • Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
  • Held, D. et al. (2004) Das demenzgerechte Heim. Basel: Karger.
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Tanner, L. J. (2018) Berührungen und Beziehungen bei Menschen mit Demenz. Bern: Hogrefe

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

Ein Gedanke zu “Prägungen und Gewohnheiten”

  1. Sehr interessantes Thema. Ich habe als Pflegedienstleiterin in der Pflege immer wieder erlebt, dass den dementen Menschen alles Mögliche aufgedrängt wurde, was sie ja gar nicht „einsehen“ oder nachvollziehen konnten. Wenn man sie ihren Gewohnheiten nachgehen ließ und sie nicht ständig einem Zwang unterwarf und für sie entschied, was für sie „gut sein“ sollte, hatten die Betroffenen es leichter und auch die Pflegenden. Warum jemanden immer wieder aus „seiner Welt“ reißen! Das verursacht doch ständig Stress für einen Menschen. Man muss ich dann schon diesen Menschen auch „widmen“, ihnen zuhören, sie „sehen“, spüren, was sie möchten oder sagen wollen. Bei dem zunehmenden Pflegefachräftemangel ist das vielleicht leichter gesagt als getan; deshalb finde ich Dementen-Wohngemeinschaften besser als dass die Menschen in „normalen Alteneinrichtungen“ leben. Sie gehen dort unter, werden von den anderen alten Menschen sogar gemieden, denn niemand will sich spiegeln. Es steckt ganz viel Angst dahinter und kein böser Wille. Die Angst, eines Tages auch so weit zu sein, die Angehörigen nicht mehr zu erkennen, desorientiert zu sein usw.
    Wir hatten eine Dame (in einer Alteneinrichtung mit pflegebedürftiger Klientel jedweder Pflegestufen (wie das damals noch hieß), die wollte von uns „Liebchen“ genannt werden. Wir waren von oben (Dachverband und Heimleitung) jedoch strengstens angewiesen, die Bewohner nicht zu duzen. Frau Rose (ich nenne sie mal so) bettelte jedoch darum, dass wir sie duzten und „Liebchen“ nannten. Wir haben es einfach getan. Sie war so glücklich. Ich legte viel Wert auf die Biografien der Menschen und so war dort vermerkt, dass Frau Rose bei ihren Großeltern aufgewachsen war und diese sie immer Liebchen genannt hatten. Das hatte sich so fortgepflanzt, das auch ihr Ehemann sie so nannte (ihre Eltern waren einem Autounfall zum Opfer gefallen). Liebchen war dann auch unser Liebchen. Das klingt vielleicht für manch einen simpel, aber für einen Menschen war es das Glück, sie war bei uns zu Hause. Und jeder einzelne Mensch ist doch wichtig, auch wenn er alt und dement ist. Ich bin auch dafür, dass alte Leute nicht durchweg geduzt werden. Das ist aber eine andere Sache, eine des Respektes. Früher war es halt üblich, dass man ältere Menschen duzt. Und alte Menschen leben oft im Früher.
    Eine andere Dame war früher Opernsängerin und wir konnten ihr die größte Freude machen, wenn wir sie singend begrüßten. Warum auch nicht!

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