Pflegeverweigerung in Gestalt der Pflegenden ist der Inhalt des 39. Blogs. Es werden sowohl Problembereiche als auch Umgangsformen aufgezeigt.
In Blog 37 und Blog 38 wurde aufgezeigt, dass Pflegende aufgrund von Fremdheit und Hektik die Ursache einer Pflegeverweigerung sein können. Beide Faktoren sind letztlich systembedingt dergestalt, dass z. B. die fehlende Bezugs- oder Gruppenpflege und ein unzureichender Personalbesatz als Erklärung für die Schwierigkeiten in der Pflege angeführt werden können. In diesem Blog hingegen werden nun spezifische Eigenschaften der Pflegenden als Grund für eine Pflegeverweigerung oder Pflegeerschwernis beschrieben. Folgende Wirkfaktoren haben sich in der Praxis der Pflege als Problemfelder herausgestellt.
Biografische Verwechselung
Wie bereits in verschiedenen Blogelementen beschrieben, sind Wahrnehmungsstörungen aufgrund des neurodegenerativen Abbauprozesses gravierende Krankheitssymptome im fortgeschritten Stadium. Die Person-Umwelt-Passung gerät hierdurch aus den Fugen und Realitätsverluste und Realitätsverzerrungen bestimmen den Alltag. Bei einer biografischen Verwechselung wird z. B. eine Pflegende für eine vertraute Person aus dem Leben der Demenzkranken gehalten. Es kann vermutet werden, dass hierbei die Wahrnehmungsstörung „Unterscheidungsunfähigkeit“ der Grund für die Fehlwahrnehmung sein könnte (siehe Blog 1). Hinzu kommt der Faktor, dass Erinnerungen gemäß der demenzspezifischen Symptomatik „Vergangenheit wird Gegenwart“ für Realverhältnisse gehalten werden (siehe Blog 36).
„Negative Verwechselung“
Bei einer „negativen Verwechselung“ wird die Pflegende meist aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit für eine Person aus der Lebensgeschichte der Demenzkranken verbunden mit negativen Erinnerungen gehalten, z. B. eine zänkische Nachbarin, eine unliebsame Kollegin oder eine Geliebte des Ehemanns. Diese Fehlidentifikation verursacht massiven emotionalen Stress, der sich u. a. dann auch in Ablehnung der Pflegenden einschließlich mit der damit verbundenen Pflegeverweigerung äußert.
Die Praxis zeigt, dass Korrekturbemühungen seitens der Pflegenden kaum eine Änderung in der Wahrnehmung bewirken. Die Betroffenen bleiben in der Regel bei ihrer Überzeugung, eine äußerst unangenehme Person in ihrem Nahbereich erleben zu müssen. Da bleibt als einzige Lösung nur ein Personalwechsel.
„Positive Verwechselung“
Bei einer „positiven Verwechslung“ hingegen werden die Pflegenden aufgrund irgendeines Sachverhaltes (eventuell Ähnlichkeit im Äußeren, Stimmlage oder Gestik) für eine Familienangehörige oder nähere Verwandte gehalten. Dabei kann es vorkommen, dass die Pflegende entweder für eine Nichte oder Enkelin gehalten wird (Stuhlmann 2004: 82), oder der Pflegende als Sohn oder Cousin fehlwahrgenommen wird (Röse 2017: 216).
Diese Rollenzuweisungen werden meist von den Betroffenen für die Pflegehandlungen akzeptiert. Die Pflegenden schlüpfen zwecks Harmonisierung des Zusammenwirkens bei der Pflege in die zugewiesene Rolle. Dadurch wird nicht nur die Pflege ermöglicht, sondern darüber hinaus sind die Demenzkranken froh, vertraute und liebgewonnene Personen erleben zu können. Auch diese Konstellation ist konkrete Demenzweltgestaltung.
„Fiktive Rollenaneignung“
Bei einer „fiktiven Rollenaneignung“ schlüpfen Pflegende bewusst in die Rolle eines vertrauten Angehörigen, um somit eine Pflegeverweigerung zu vermeiden bzw. zu beheben. Dabei suggerieren sie den Betroffenen, z. B. die Tochter oder der Sohn zu sein; Beispiel: „Ich bin doch der Christian!“ (persönliche Mitteilungen).
Persönlichkeitsfaktoren der Pflegenden
In den Heimen wird immer wieder beobachtet, dass Pflegende Probleme im Umgang mit demenzkranken Bewohnern bei der Pflege haben, während hingegen diese Schwierigkeiten nicht bei den Kollegen auftreten. In diesen Fällen scheinen die betroffenen Pflegenden die Pflegeverweigerung bzw. die Erschwernis der Pflege aus vielerlei Gründen zu verursachen. Folgende Faktoren werden dann u. a. als mögliche Ursachen hierfür angeführt.
Beziehungsaspekte
Pflegende berichten freimütig, dass sie bei manchen Bewohnern keine rechte Vertrautheit herstellen können. Sie spüren dies u. a. deutlich, wenn sie ins Bewohnerzimmer treten und ihre optimistische Unbeschwertheit und Offenheit dem Bewohner gegenüber nicht mehr besitzen, die sie bei dem vorherig gepflegten Demenzkranken noch bei sich erlebt haben. Die Pflegenden bleiben zwar freundlich und höflich, doch sie merken zugleich auch die Distanz zu dem Bewohner. Und der Angesprochene spürt unbewusst auch diese Distanz, die er als Ablehnung und Missbilligung interpretiert und die ihn verunsichert. Pflegeverweigerung bzw. Pflegeerschwernis sind dann oft die Folgen.
Persönlichkeitsbedingte Umgangsformen
Pflegende berichten auch, dass manchmal Pflegende und Demenzkranke von ihrer Wesensart nicht so recht zusammenpassen. Diese Unterschiede zeigen sich u. a. im Distanzverhalten. Pflegende als auch Demenzkranke verfügen über angeborene Umgangsformen bezogen auf das Verhalten mit anderen Personen im Nahbereich. Umgangssprachlich können sie als „Distanztyp“ bzw. „Nähetyp“ bezeichnet werden. Wenn nun z. B. eine Demenzkranke, die gerne bei der Pflege kuschelt, indem sie z. B. die Pflegende streichelt, umarmt oder auch küsst, von einer Pflegenden vom Typus Distanz versorgt wird, der nicht so ganz wohl bei diesem Verhalten ist, dann entsteht recht schnell Irritation und Verunsicherung bei der Betroffenen. Rückzugsverhalten bzw. Pflegeverweigerung sind dann die unmittelbaren Folgen.
Belastungsniveau
Es kann auch vermutet werden, dass oft auch das Belastungsniveau der Pflegenden im durch Hektik geprägten Pflegealltag mit dazu beiträgt, dass die Pflege nicht immer zur allseitigen Zufriedenheit ausgeführt werden kann. Wenn z. B. ein Personalminderbesatz (Krankmeldungen u. a.) in Verbindung mit weiteren Erschwernissen wie vermehrte Akuterkrankungen (z. B. Norovirus) und abgängige Bewohner mit Weglauftendenz auftreten, dann können auch Pflegende ins Rotieren geraten. Und es gelingt nicht jedem, in diesem Gemengegelage bei der Pflege in den ersten Gang runterzuschalten, um mit Engelsgeduld langsam eine Pflegeprozedur durchzuführen.
Geschlecht und Alter der Pflegenden
Auch das Geschlecht und das Alter der Pflegenden führen relativ häufig zu Belastungen in der Pflege, sowohl für die Demenzkranken als auch für die Pflegenden, wie folgenden Beispiele zeigen:
Beispiel 1: Ein Demenzkranker hatte immer Ärger mit männlichen Pflegern, bei Frauen hingegen neigte er eher zum freundlichen Geplänkel, ohne dabei übergriffig zu werden. Konflikte in der Pflege traten hierbei recht selten auf (persönliche Mitteilung).
Beispiel 2: Eine Demenzkranke ließ sich lieber von Männern pflegen. Sie verkehrte früher mehr in männlicher Gesellschaft (persönliche Mitteilung).
Beispiele 3: Jüngere weibliche Pflegende berichten, dass sie von Bewohnern aufgrund ihres Alters nicht ernst genommen werden. Sie werden dann u. a. wie kleine Kinder behandelt und des Zimmers verwiesen (persönliche Mitteilungen).
Konsequenzen für die Praxis
Wie bereits weiter oben angeführt, ist in diesen Fällen ein Personalwechsel angemessen, sowohl zum Wohle der Demenzkranken als auch zum Wohle der Pflegenden. In der stationären Pflege ist eine derartige Änderung keine allzu große Aufgabe, die wohl meist innerhalb einer Pflegegruppe des jeweiligen Wohnbereiches gelöst werden kann. Etwas problematischer wird es wohl bei der ambulanten Pflege sein.
Literatur
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Röse, K. M. (2017 Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe
- Stuhlmann, W. (2004): Demenz – wie man Bindung und Biografie einsetzt. München: Reinhardt
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.
Die Wahrnehmungsstörung der „Biografischen Verwechslung“ kommt sehr oft in der Demenzpflege vor. Ich erinnere mich an eine Bewohnerin, die einen Mitbewohner für ihren Exmann hielt, von dem sie sich noch in hohem Alter hatte scheiden lassen. Sobald sie ihn erblickte, bekam er bissige Bemerkungen zu hören und als er auch noch behauptete, er kenne seine (angeblichen) Kinder nicht, war es völlig um die Fassung der alten Dame geschehen (negative biografische Verwechslung). Dieselbe Bewohnerin glaubte auch, mit mir verwandt zu sein und dass wir früher zusammen in einem Mietshaus gewohnt hätten. Sie genoss es, morgens bei der Pflege über die „gemeinsamen alten Zeiten“ zu reden und zu überlegen, wo die Trude von damals denn nun abgeblieben sei. Für sie war das ein zufriedener Start in den Tag (positive biografische Verwechslung). Anhand dieser Beispiele kann man sich vielleicht vorstellen, was in einem Wohnbereich für Menschen mit Demenz für skurrile Situationen entstehen, sei es zwischen Bewohner und Pflegepersonal oder den Bewohnern untereinander. Auch gab es die Situationen, dass eine Bewohnerin keine jungen Mädchen wie Praktikantinnen oder Schülerinnen mochte, weil sie Angst hatte, ihr Ehemann könnte diese hübsch finden. Diese Antipathie tat sie auch lautstark kund, so dass die jungen Leute nicht bei ihr in der Versorgung eingesetzt werden konnten und ihr aus dem Weg gingen, wann immer es möglich war.
Weitere Beispiele dieser Art habe ich in meinem Buch „Ich muss in die Schule – Geschichten aus der Welt der Demenz“ beschrieben, das bei der Schlüterschen Verlagsgesellschaft erschienen ist.
Lieber Sven,
alle Deine Blogs sind für mich sehr informativ, und einiges kann ich mit meinen Erfahrungen abgleichen. Was den unbedarften „Normalo“ ja immer irritiert , ist die Tatsache, dass der Demenzkranke sich selbst durch Offensichtliches nicht in seiner Fehlwahrnehmung korrigieren läßt. In unserem aktuellen Fall Ist es bspw. so, dass wir bei dem dementen 85jährigen Mieter, der keine Angehörigen hat, einen sehr hilfsbereiten Arzt als Nachbarn haben, der nah dran ist und die Störung sehr gut kennt. Er ist im engen Kontakt mit seiner Tochter, die in Aachen in der Psychiatrie arbeitet, und die ihn berät. Leider gibt es keinerlei Kooperation mit dem den Mieter behandelnden Psychiater, geschweige denn mit seinem Hausarzt. Wir wissen nicht, hat er und wenn welche Medikamente verschrieben bekommen. Umgekehrt würde ja auch der behandelnde Arzt sehr von den Beobachtungen seines Kollegen profitieren, aber es gibt keinerlei Kooperation! Eine solche Ignoranz geht auf Kosten einer optimalen Betreuung mit der Folge, dass der Mieter vielleicht deutlich eher die Wohnung zugunsten eines betreuten Wohnens verlassen muß.