Eigentümlichkeiten der Demenzpflege

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Pflegeerschwernisse aufgrund einer Pflegezeiteinteilung ist der Inhalt des 40. Blogs. Es werden die Problemfelder Tagesschwankung und Wecken hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Pflege beschrieben.

Wer die bisherigen Blogs gelesen hat, wird feststellen können, dass die Pflege Demenzkranker im schweren Stadium kein leichtes Unterfangen darstellt. Viele Faktoren und manchmal auch zu viele Faktoren gilt es hierbei in der Regel zu berücksichtigen. Es sind die Wahrnehmungs- und Empfindungsstörungen (Blog 1 – 7) teils in Verbindung mit Realitätsverzerrungen und Realitätsverlusten (Blog 8 – 12). Diese Krankheitssymptome erfordern, dass es neben der Grund- und Körperpflege ein weites Spektrum an psychosozialen Beeinflussungsstrategien anzuwenden gilt. Es handelt sich dabei Formen der Lenkung, Stabilisierung und auch Beruhigung (Blog 13 – 20und Blog 26 – 32). Hinzu kommen die Elemente der sozialen und räumlichen Milieugestaltung, ohne die eine angemessene Pflege und Betreuung nicht getätigt werden kann. Es gilt dabei, ein Demenzmilieu mit Elementen einer Demenzweltgestaltung aufzubauen und aufrechtzuerhalten (Blog 23 – 25).

All diese Faktoren und Elemente verweisen auf den Sachverhalt, dass für die Durchführung der Demenzpflege vielerlei Können, Erfahrung und Geschick erforderlich sind. Man denke hierbei z. B. nur an die Vorgehensweisen einer Demenzweltgestaltung, um Demenzkranken mit zwangsähnlichem Desorientierungsverhalten den „Sparkassenbesuch“ bzw. das „Zeitungsaustragen“ zu ermöglichen (siehe Blog 12). Diese Strategien wurden von Pflegenden selbst entwickelt, sie standen in keinem Lehrbuch. Es kann hier vollauf von pflegerischer bzw. demenzpflegerischer Kunst ähnlich der ärztlichen Kunst gesprochen werden.

Pflegeerfordernisse

In Blog 21 wurde beschrieben, dass die Demenzpflege als Grund- oder Körperpflege aufgrund der vielen Wirkfaktoren in der Lebenswelt Demenzwohnbereich sich oft als eine „Abenteuer- oder Überraschungspflege“ gestaltet. Nach dem Motto „jeder Tag ist anders!“. Diese spezifischen Milieu- und Arbeitsbedingungen, die letztlich den demenzspezifischen Krankheitssymptomen geschuldet sind, bedürfen ein großes Maß an situationsspezifischen Beeinflussung- und Lenkungspotentialen bei den Pflegenden. Die Kernelemente hierbei sind vor allem Zeitreserven, Selbständigkeit und Handlungssicherheit; anders lässt sich das oft tägliche Chaos kaum beherrschen (siehe Blog 22).

Als Richtschnur und Orientierungsrahmen gilt hier für alle erforderlichen Maßnahmen der vertraute Spruch „Wenn es den Pflegenden gut geht, dann geht es auch den Demenzkranken gut!“ In dieser Erkenntnis drückt sich das Wissen aus, dass es bei der Pflege auch immer um die Gestaltung einer Beziehung handelt, das Miteinander von Pflegenden und Demenzkranken. Und in diesem Miteinander in der Pflege und Betreuung sollten die Demenzkranken möglichst immer auch die Gelassenheit und zugleich auch Verhaltenssicherheit der Pflegenden spüren können.

Demenzpflege ist somit mehr als bloße Körperpflege. Demenzpflege ist zugleich auch Beziehungsgestaltung, Demenzweltgestaltung und vieles mehr. Um diesen Aufgaben gerecht werden zu können, bedarf es der entsprechenden Rahmenbedingungen, die in Blog 22 in Ansätzen formuliert wurden. Dass diese Erfordernisse an eine angemessene Demenzpflege in vielerlei Hinsicht in der gegenwärtigen Praxis in den Heimen nicht eingehalten werden, wird der Schwerpunkt dieses und der folgenden Blogs bilden. Es gilt hierbei zu berücksichtigen, dass die Nichtbeachtung dieser Regeln sich negativ auf die Pflege auswirkt. Pflegeverweigerung und auch Pflegeerschwernis sind dann die unmittelbaren Folgen.

Pflegeerschwernisse

In den vorhergehenden Blogs wurde bereits eingehend darauf verwiesen, welche negativen Folgen für die Pflege die fehlende Vertrautheit und die Alltagshektik im Umgang mit Demenzkranken besitzen (Blog 37 und Blog 38). Hierbei handelt es sich um konkrete Pflegeerschwernisse, die durch unzureichende und fehlende Rahmenbedingungen verursacht werden. Diese Problemlagen lassen sich jedoch in der Regel mittels entsprechender Interventionen (Bezugs- oder Gruppenpflege und angemessener Personalstand) beheben.

In diesem und in den folgenden Blogs werden weitere Pflegeerschwernisse und die damit verbundenen Rahmenbedingungen aufgelistet, verbunden mit der Hoffnung, dass die Blogeinträge eventuell ein Problembewusstsein bei den Verantwortlichen hervorruft, die zu Änderungen bzw. zur Beseitigung der objektiven Fehlentwicklungen führen werden.

Pflegezeiteinteilung

Eine Pflegeerschwernis in der Demenzpflege besteht in den Zeitvorgaben im Pflegebereich, wenn z. B. die Vorgabe lautet, dass im Wohnbereich bis spätestens 8:30 Uhr die Morgenpflege abgeschlossen sein sollte. Bei dieser Rahmenbedingung „fester Zeitplan“ kommen mehrere erschwerende und damit belastende Faktoren sowohl für die Pflegenden als auch für die Demenzkranken zusammen. Folgende Elemente werden dabei nicht ausreichend berücksichtigt:

  • Tagesform bzw. Tagesformschwankungen
  • Wecken
  • Zusatzstress bei den Pflegenden

Dieses Zeitorganisationskonzept ist ein klassisches Modell einer Institution wie z. B. einem Krankenhaus, einem Gefängnis oder auch einer Kaserne.

Tagesform bzw. Tagesformschwankungen

Die Tagesform hinsichtlich der Fähigkeiten der Wahrnehmung und damit auch der Alltagsbewältigung schwankt bei Demenzkranken sehr stark. So wurde z. B. in einer schwedischen Studie bei Demenzkranken im Heim Tagesschwankungen im Bereich der Selbstpflege am Morgen mit einer Bandbreite von 30 bis 100 Prozent ermittelt (Sandman et al. 1986). Pflegende berichten, dass sie unterschiedliche Typen von Tagesformen bei den Bewohnern beobachten konnten: Tagesformen, die konstant den ganzen Tag über anhalten und Tagesformen, die im Laufe des Tages wechseln (Lind 2007: 92ff).

Für die Körperpflege bedeutet dieser Sachverhalt, dass bei diesen Schwankungen in der Tagesform Veränderungen im Zeitaufwand der Pflege zur Folge haben. Eine strikte Zeiteinteilung wie z. B. weiter oben beschrieben (Abschluss der Morgenpflege um 8:30 Uhr) wird diesem Tatbestand nicht gerecht. Hier ist eine flexible Arbeitszeitbemessung angezeigt.

Wecken

Demenzkranke haben krankheitsbedingt ein abweichendes Schlafverhalten dergestalt, dass ihr Schlaf keine Tiefschlafphasen aufweist, der für die Regeneration von großer Bedeutung ist. Da Schlaf bei vielen Erkrankungen ein Therapeutikum erster Wahl ist, sollte das Schlafverhalten Demenzkranker regelrecht geschützt werden. Leider wird dieser Sachverhalt in vielen Heimen nicht ausreichend berücksichtigt, indem die Bewohner aus verschiedenen Anlässen fast schon regelmäßig geweckt werden.

Wie negativ sich das Wecken auf das Verhalten Demenzkranken auswirkt, haben verschiedene Untersuchungen ermittelt. So konnte z. B. nachgewiesen werden, dass das nächtliche Wecken für den Toilettengang bzw. für das Wechseln der Inkontinenzunterlagen zu Überforderungsverhalten führt. Die Folge ist, dass demenzkranken Bewohner hierdurch am folgenden Tag erhöhte Unruhe zeigen, die sich u. a. in tätlicher Aggression und ständigem Wandern äußert (Cohen-Mansfield et al. 1990). Auch das morgendliche Wecken ruft ähnliche Effekte bei den Betroffenen hervor. So wurde beobachtet, dass besonders beim Wecken Demenzkranke zu schreien beginnen und aggressiv werden(Cariaga et al. 1991, Lind 2000: 28, Lind 2007: 71, Sachweh 2008: 210f).

Dieses Überforderungsverhalten Demenzkranker beim Wecken erfordert ein striktes Weckverbot. Wecken ist somit ein gravierender Pflegefehler in der Demenzpflege. Ausnahmen hiervon bedürfen einer medizinischen Indikation (Lind 2007: 71).

Zusatzstress bei den Pflegenden

Wenn nun Pflegende aufgrund der Regelung einer festen Zeitvorgabe morgens die Bewohner wecken, dann sind sie auch noch oft mit den Folgen der nächtlichen Inkontinenz und anderen Problemen (z. B. die Suche nach verlegten Utensilien wie Brillen, Gebisse und Hörgeräte) konfrontiert, die deutliche Mehrarbeit erfordert (Schäufele et al. 2008, Lind 2011: 49). Ein ruhiges und geduldiges Arbeiten wird bei diesen Gegebenheiten kaum möglich sein. Den Pflegenden wird bewusst oder unbewusst gewahr, dass sie konkrete Zeitvorgaben nicht einhalten können, da sie über keine Zeitreserven hierzu verfügen. Hektik einschließlich Pflegeerschwernis bzw. Pflegeverweigerung sind oft dann die Resultate dieser Rahmenbedingung.

Konsequenzen für die Praxis

Die Lösung dieses Dilemmas besteht nun darin, dass man bei der Demenzpflege auf feste Zeitpunkte als Pflegevorgabe gänzlich verzichtet und anstelle davon Zeiträume angibt, die auch noch gegebenenfalls durch individuelles Bewohnerverhalten modifiziert werden können.

Es darf vermutet werden, dass diese Rahmenbedingung einer festen Pflegezeiteinteilung, die geradezu das Wecken erforderlich macht, in den meisten stationären Pflegeeinrichtungen nicht mehr wirksam sein wird. Die wenigen Heime, die aus unterschiedlichen Gründen noch an einer strikt festgelegten Zeiteinteilung der Pflege festhalten, sollten sich u. a. im Rahmen ihrer Qualitätszirkel umgehend mit diesen Missständen auseinandersetzen.

Literatur

  • Cariaga, J. et al. (1991) A controlled study of disruptive vocalizations among geriatric residents in nursing homes. Journal of the American Geriatrics Society, 39, 501 – 507.
  • Cohen-Mansfield, J. et al. (1990) The relationship between sleep disturbances and agitation in nursing home. Journal of Aging and Health, 2,1, 42 – 57.
  • Lind, S. (2000) Umgang mit Demenz. Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Methoden. Stuttgart: Paul-Lempp-Stiftung. https://www.svenlind.de/wp-content/uploads/2019/01/Wissen24LemppA.pdf
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Namazi, K. H. et al. (1992). Pertinent autonomy for residents with dementias: Modification of the physical environment to enhance independence. The American Journal of Alzheimer’s Disease and Related Disorders & Research, 7, 1, 16 – 21.
  • Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. nd Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Sandman, P. et al. (1986) Morning care of patients with Alzheimer-type dementia. Journal of Advanced Nursing, 11, 4, 369 – 378.
  • Schäufele, M. et al. (2008) Demenzkranke in der stationären Altenhilfe. Aktuelle Inanspruchnahme, Versorgungskonzepte und Trends am Beispiel Baden-Württembergs. Stuttgart: Kohlhammer Verlag

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