Das Verdinglichungskonzept 5: Skalierungsfehler und demenzspezifische Eingebungen

Geschätzte Lesedauer: 4 Minuten

Das Verdinglichungskonzept bei Skalierungsfehlern und demenzspezifischen Eingebungen ist der Inhalt des 50. Blogs. Es werden Fälle aus dem Bereich der Demenzweltgestaltung erläutert.

Vorbemerkungen

In den letzten beiden Blogs 48 und 49 wurde eindringlich anhand von konkreten Beispielen veranschaulicht, in welchem Ausmaß konkrete Gegenstände als Beeinflussungsinstrumente zur psychosozialen Stabilisierung bei Realitätsverlusten beitragen. In diesem Blog werden weitere Strategien des Verdinglichungskonzeptes aus dem Krankheitsspektrum Realitätsverluste vorgestellt. Das Wissen um diese Gestaltungsform, mit konkreten Dingen positive Eigenwelten zum Wohle der Betroffenen zu kreieren (Demenzweltgestaltung), ist ein unabdingbares Erfordernis für eine wirksame Demenzpflege.

„Verkleinerte“ Demenzwelten

In Blog 5 wurde mittels zweier Beispiele die Wahrnehmungsstörung Skalierungsfehler bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium beschrieben. Bei dem Skalierungsfehler handelt es sich um die Fehleinschätzung der Größenverhältnisse in der Wahrnehmung. Diese Wahrnehmungsstörung wird bei Kleinkindern im Rahmen der Hirnentwicklung im Alter von 18 – 30 Monaten beobachtet (Siegler et al. 2016: 177). Dieses Verhalten zeigt sich, wenn z. B. ein Kleinkind versucht, in ein Spielzeugauto einzusteigen oder sich auf einen Puppenstuhl zu setzen.

In der Demenzpflege wird diese Wahrnehmungsstörung bezüglich der Größenverhältnisse genutzt, um konkrete Eigenwelten für Demenzkranke mit belastenden Realitätsverlusten zu gestalten. Nur wird hierbei die Demenzweltgestaltung in Form einer Verkleinerungsstrategie praktiziert, eine Demenzwelt bzw. Eigenwelt im Kleinen, ähnlich einer Spielzeugwelt für Kinder. Anhand von zwei Falldarstellungen wird diese Vorgehensweise veranschaulicht.

Stabilisierungshalluzination

In Blog 5 wurde u. a. auch die Symptomatik Stabilisierungshalluzination (vorläufiger Arbeitsbegriff) bei Demenzkranken beschrieben. Bei dieser Form der Halluzination handelt es sich um eine „positive Halluzination“ dergestalt, dass mittels dieser Wahrnehmungsstörung und zugleich Realitätsverzerrung die Betroffenen die belastende Umwelt leichter bewältigen können. Meist werden Haustiere (Hühner und Katzen) halluziniert. Es kann angenommen werden, das dadurch das ständige Alleinsein besser ertragen werden kann (Lind 2011: 208).

Im Beispiel in Blog 5 wurde das Halluzinieren von Hühnern hingegen zu einer Falle für die Demenzkranke dergestalt, dass sie nicht mehr wagte, das Zimmer zu verlassen: „sie könne doch ihre Hühner nicht unbehütet allein lassen!“ Auf der anderen Seite wäre sie ja gern bereit, am geselligen Leben auf dem Wohnbereich teilzunehmen.

Die Pflegenden fanden eine Lösung, indem sie die positiven Trugbilder der Betroffenen verdinglichten und zugleich auch verkleinerten. So wurden Spielzeughühner auf den Tisch im Zimmer der Bewohnerin aufgestellt und mit einem Gatter versehen. Das überzeugte die Demenzkranke, sie sah ihre Hühner sicher eingezäunt. So war sie dann bereit, ihr Zimmer unbesorgt zu verlassen.

Ergänzend darf auf den Sachverhalt verwiesen werden, dass Pflegende auch bei den Pflegehandlungen mit Stabilisierungshalluzinationen konfrontiert werden. So darf z. B. eine Pflegende erst mit der Grundpflege beginnen, wenn sie vorab das „Huhn“ gefüttert hat. Dem Wunsche der Demenzkranken entsprechend, wird dann zuerst einmal Hühnerfutter auf dem Boden verstreut (Lind 2011: 208).

Zwangsähnliches Desorientierungsphänomen

Ebenfalls in Blog 5 wurde anhand eines Beispiels gezeigt, wie mittels Spielzeug eine störende Verhaltensweise aus dem Bereich zwangsähnliche Desorientierungsphänomene „verkleinert“ wurde. So warf ein ehemaliger Bauer immer um 16:00 Uhr sein Kopfkissen auf den Flurboden. Die Pflegenden wussten, dass der Demenzkranke früher auf seinem Hof zu dieser Zeit seinem Vieh im Stall das Heu zuwarf. Auch hier stellten die Pflegenden Spielzeugrinder auf den Tisch und reichten dem Bewohner um 16:00 Uhr kleine selbstgebastelte Strohballen, die er dann seinem „Vieh“ zuwarf.

Es zeigt sich, dass die Wahrnehmungsstörung Skalierungsfehler Grundlage für den Einsatz von Spielzeugelemente im Rahmen der Verdinglichungsstrategie und zugleich Demenzweltgestaltung bildet. Es handelt sich bei den Verkleinerungsstrategien um probate Beeinflussungs- und Lenkungsmodalitäten zum Wohle der Betroffenen. Angesichts der Tatsache, dass Verkleinerungsstrategien bisher nicht in der Fachliteratur und auch nicht in der Ausbildung thematisiert wurden, überrascht es, mit welcher Erfindungsgabe und Kreativität Pflegende gravierende Problemlagen Demenzkranker wirksam zu lösen verstehen.

Demenzspezifische Eingebungen

In Blog 11 wurde die Krankheitssymptomatik demenzspezifische Eingebung anhand mehrerer Beispiele veranschaulicht. Bei diesem Realitätsverlust handelt es sich um das Phänomen, dass beim Aufwachen die noch im Bewusstsein präsenten Trauminhalte für die Realität gehalten werden. Demenzkranke können demnach nicht mehr zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden. Auch hierbei besteht wieder die Parallele zur Hirnentwicklung bei Kindern, die erst im Alter von ca. sechs Jahren die geistige Unterscheidungsleistung hierfür erbringen können (Shomaker 1987).

Beim Erwachen werden die Demenzkranken oft unruhig und verwirrt, wenn sie die Trauminhalte nicht in ihrer nahen Umgebung vorfinden. Also besteht die Aufgabe der Pflegenden darin, wie in den Werbebroschüre oft propagiert, „den Traum Wirklichkeit werden zu lassen.“ Das ist nicht allzu schwierig, denn die gerade Erwachten berichten meist eindringlich von ihrem Traumerleben. In Blog 11 bestehen die Trauminhalte u. a. aus einem Diebstahl und aus einer Geburt. Die Demenzweltgestaltung nimmt dann in diesen Fällen die Form einer „Traumweltgestaltung“ an, denn es gilt, die aufgeregten Bewohner möglichst umgehend zu beruhigen. In den angeführten Beispielen schlüpft die Pflegende bei dem „Diebstahl“ in die Rolle einer Kriminalbeamtin, wenn sie sich verkleidet mit Mantel und Hut an die aufgebrachte Bewohnerin mit der Aufforderung wendet, ihr den Tathergang genau für das Protokoll zu schildern. Die Betroffene ist sofort erleichtert, weiß sie doch nun, dass ihr geholfen wird (Lind 2007: 193). Bei dem Traum von der Geburt wird der Demenzkranken, die vehement nach ihrem Neugeborenen verlangt, eine Puppe in den Arm gedrückt. Dies löst die Aufregung und Spannung bei der Bewohnerin.

Literatur

  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Shomaker, D. (1987) Problematic behavior and the Alzheimer’s patient: Retrospection as a method of understanding and counseling. The Gerontologist, 27, 3, 370 – 375.
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer.

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