Verhaltensweisen Demenzkranker im Kontext des Vollständigkeitskonzepts

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Verhaltensweisen Demenzkranker im Kontext des Vollständigkeitskonzepts sind der Inhalt des 60. Blogs. Es werden Verhaltensweisen und Beeinflussungsmodalitäten aufgezeigt.

Vorbemerkungen

Im vorherigen Blog wurde aufgezeigt, dass Demenzkranke aufgrund illusionärer Selbstwahrnehmungen ihre konkrete Umwelt nicht mehr angemessen einschätzen können. Die potentiellen Gefahren werden nicht mehr erkannt. Sie sind dadurch hilfe- und zugleich auch schutzbedürftig. Pflegenden und Betreuenden obliegt zwecks Gewährleistung der Unversehrtheit die Aufgabe, die Betroffenen im Blickfeld zu haben und bei Bedarf einzugreifen. Auch in diesem Blog geht es um diese Schutzfunktion der Aufsicht und der eventuellen Intervention. Der Schwerpunkt liegt hierbei im konkreten Verhalten der Demenzkranken im Miteinander im Wohnbereich. Das Zusammenleben, die Kontakte und der Umgang besitzen auch demenzspezifische Aspekte, die es genau zu berücksichtigen gilt.

Gemeinschaftsorientierung

Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium haben auch das Bedürfnis nach Kontakt, Geselligkeit und sozialer Anerkennung. Genauso wie nicht demenzkranke Personen sind sie je nach Persönlichkeitstypus gesellig oder zurückhaltend, dominant im Auftreten oder eher ruhig.

Der Unterschied im Sozialverhalten besteht überwiegend darin, dass sich Demenzkranke aufgrund des neuropathologischen Abbauprozesses in einem kleinkindähnlichen geistigen Wahrnehmungs- und Erfassungsmodus der inneren und äußeren Reizgefüge befinden, der schwerpunktmäßig von einem recht egozentrischen Verhaltensspektrum gemäß Piaget bestimmt wird (Siegler et al. 2016: 125). Das bedeutet, sie können alles Geschehen ihrer unmittelbaren Umwelt nur noch aus ihrer eigenen Sicht wahrnehmen und bewerten. Wut und Sturheit im Verhalten und im Umgang sind dann oft die Folgen.

Nähe suchen

Erfahrungen der Pflegenden, die von einschlägigen Untersuchungen bestätigt werden, weisen darauf hin, dass die physische Nähe der Pflegenden eine beruhigende und Geborgenheit vermittelnde Wirkung bei den Demenzkranken hervorruft. So ist oft beobachtet worden, dass Bewohner ihre Pflegenden bei der Verrichtung pflegeferner Handlungen wie Dokumentation, Medizin stellen oder Telefonate führen beobachten und teilweise auch versuchen, hierbei Kontakt aufzunehmen. Dies geschieht u. a. durch Winken, Ansprechen, Berühren und Streicheln. Dieses Verhalten kann dahingehend interpretiert werden, dass es für die recht hilflosen und unselbstständigen Bewohner von großer Bedeutung ist, ihre Hauptbezugspersonen im Nahbereich erleben zu dürfen. Die Erfahrung, diese wichtigen Personen sehen, hören und eventuell auch berühren zu können, vermittelt ihnen die Gewissheit, nicht allein und damit ungeschützt zu sein (Lind 2007: 61 und 195, Röse 2017: 267f).

Nachahmen

Wie bereits in Blog 18 angeführt, ist bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium ähnlich wie bei Kleinkindern das reflexartige Nachahmungsvermögen noch recht gut ausgebildet (Siegler et al. 2016: 182). Diese Kompetenz wird von den Pflegenden als Strategie der Pflegeerleichterung dahingehend verwendet, dass anstelle einer verbalen Erläuterung eine Handlung einfach nur vormacht wird, die dann prompt von den Demenzkranken nachgeahmt wird.

Im sozialen Umgang miteinander der Demenzkranken wirkt sich der reflexartige Nachahmungsimpuls u. a. wie folgt aus:

  • Wenn ein Bewohner vorbeikommt, stehen die Sitzenden auf und folgen. Oder wenn von den Sitzenden jemand aufsteht, machen es die anderen ebenso (Röse 2017: 232 und 267, Stoffers 2016: 218).
  • Belastend ist es für Betreuende, wenn bei einem Gruppenangebot ein Teilnehmer aufsteht und davongeht und es folgen dann oft mehrere noch mobile Gruppenteilnehmer (persönliche Mitteilung).
  • Wenn jemand zu schreien oder zu rufen beginnt, fallen oft die Mitbewohner ein (persönliche Mitteilung). Eine laut rufende Bewohnerin kann dann leicht ganze Tischgemeinschaften in Aufregung und Unruhe versetzen (Rühl 2012).

Diese Beispiele zeigen, dass das reflexartige Nachahmen auch seine Schattenseiten oft zu Lasten des sozialen Milieus besitzt.

Kleinkindähnliches Verhalten

Untersuchungen haben ergeben, dass Demenzkranke oft prosoziales Verhalten zeigen: sie helfen sich z. B. beim Brötchen schmieren, die Jacke ausziehen oder Schuhe anziehen; sie weisen sich Plätze zu und schenken sich bei Tisch ein; sie machen auch vieles gemeinsam wie Herumwandern oder am Tisch sitzen. Sie trösten sich und sprechen sich gegenseitig Mut zu (Röse 2017: 271ff). Und sie führen ihre „Demenzgespräche“ (Lind 2007: 172f, Röse 2017: 253).

Dass Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium ähnlich wie Kleinkinder regelrecht ein Trotzverhalten zeigen und z. B. die Zunge herausstrecken, wurde bereits in Blog 35 beschrieben. Im Folgenden werden weitere kleinkindähnliche Verhaltensweisen gezeigt, die eine ständige Beobachtung und ein eventuelles Eingreifen erforderlich machen:

  • Tätlichkeiten wie Schlagen oder Schubsen, teils ohne Anlass (Camp 2015: 66, Rühl 2012: 23)
  • Schimpfen und Bedrohungen (Rühl 2012)
  • Mitbewohnern Gegenstände wegnehmen (Röse 2017: 287)
  • Gegenstände teils in Wut auf den Boden werfen oder vom Tisch fegen (Camp 2015: 78ff, Stoffers 2016: 208)
  • Gewaltausbrüche ohne Anlass (Stoffers 2016: 207)
  • Revierkonflikte um Sitzplätze und Bewohnerzimmer mit Schimpfereien und Handgreiflichkeiten (persönliche Mitteilungen)
  • Mitbewohner anzuherrschen, sich hinzusetzen und ruhig zu sein (Baker 2016)
  • Rollstuhlgebundenen Bewohner ohne dessen Einverständnis in den Abstellraum schieben (Elvén et al. 2020: 84)

Soziale Verdichtung des Milieus

Die hier angeführten Verhaltensweisen verdeutlichen, dass die Demenzkranken im Kontakt mit anderen Personen bei Konfliktlagen meist überfordert sind. Bedingt durch den neurodegenerativen Abbauprozess verfügen sie nicht mehr über die hierfür erforderlichen Kompetenzen zur Selbstregulierung der auftretenden Spannungen im Nahbereich. Dieses Unvermögen und zugleich auch das Bedürfnis der Betroffenen nach Zuwendung und Schutz durch die Pflegenden erfordern entsprechende Strategien des Umganges und der Milieugestaltung wie im Folgenden gezeigt wird.

Das Präsenzmilieu

Das Präsenzmilieu basiert auf dem Konzept einer Verstetigung sozialer Nähe durch möglichst weitgehende Überschneidung von Gemeinschaftsflächen mit den Arbeitsbereichen der Mitarbeiter. Das heißt, die Arbeitsfelder liegen in den Wohnbereichen oder grenzen direkt daran an. So kann ein Präsenzmilieu geschaffen werden, das auf dem Prinzip „bewohnerferne Tätigkeiten bewohnernah ausführen“ beruht (Lind 2011: 143). Durch dieses Prinzip gelangt Lebendigkeit in das Wohnmilieu. Bewohner können ihre vertrauten Bezugspersonen beobachten und sind dadurch zugleich beruhigt und psychosozial eingebunden. Folgende Formen des Präsenzmilieus haben sich zwischenzeitlich herausgebildet:

  • das Tresen-Modell: der Pflegestützpunkt ist in Form einer Rezeption in das Gemeinschaftsmilieu integriert
  • Verlegung der Tätigkeiten wie Pausen, Übergaben, Pflegedokumentation u. a. in die Gemeinschaftsflächen der Bewohner
  • Bewohner in die Mitarbeiterbereiche zulassen (Teilnahme an Pausen, Übergaben und Besprechungen).

Das Präsenzmilieu ist eine Form sozialer Verdichtung durch das enge Nebeneinander von Bewohnern und Mitarbeitern in einem räumlichen Bereich. Räumliche Nähe entfaltet soziale Nähe und führt damit zu Empfindungen von Gemeinschaftlichkeit (Lind 2011: 143).

Ungeplante Stimulierungen oder Improvisation

Bei ungeplanten Stimulierungen handelt es sich meist um Reaktionen der Pflegenden auf kollektive Unruhezustände der demenzkranken Bewohner, die meist in den Zeiten zwischen den Mahlzeiten und Pflegehandlungen ohne strukturierte Betreuungsangebote entstehen. Pflegende und auch Betreuende reagieren spontan und intuitiv auf dieses Stressverhalten, indem sie mit den Betroffenen beruhigende und gemeinschaftsbildende Maßnahmen durchführen:

Singen: Pflegende berichten, dass sie bei der zunehmenden Unruhe mehrerer Bewohner gemeinsam ein Lied anstimmen. Durch die vertrauten Stimmen der Pflegenden und das bekannte Lied mit einem biografischen Hintergrund (Volkslied) kehrt Ruhe bei den Bewohnern ein. Sie werden ruhiger und lauschten dem Gesang.

Stuhlkreis: Auf eine sich steigernde Unruhe einiger Bewohner reagieren die anwesenden Pflegenden spontan mit der Bildung eines Stuhlkreises. Den unruhigen Bewohnern wird hierbei etwas vorgelesen (Märchen oder ähnliches) oder etwas Vertrautes erzählt. Oder es wird gemeinsam gesungen (Lind 2011: 148).

Kaffeerunde: Ähnlich wie bei dem Stuhlkreis wird gemeinsam am Tisch Kaffee getrunken (Röse 2017: 308).

Literatur

  • Baker, C. (2016) Exzellente Pflege von Menschen mit Demenz entwickeln. Bern: Hogrefe
  • Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
  • Elvén, B. H. et al. (2020) Herausforderndes Verhalten bei Demenz. München: Ernst Reinhardt Verlag
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Röse, K. M. (2017) Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe
  • Rühl, M. (2012) Ich muss in die Schule! Geschichten aus der Welt der Demenz. Hannover: Schlütersche Verlagsgesellschaft
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer
  • Stoffers, T. (2016) Demenz erleben: Innen- und Außensichten einer vielschichtigen Erkrankung. Wiesbaden: Verlag Springer

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