Die Realitätsverkindlichung (Teil 3)

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Realitätsverkindlichung (Teil 3) ist der Inhalt des 74. Blogs. Anhand des Schreiens als „verdecktes kleinkindähnliches Verhalten“ (vorläufiger Arbeitsbegriff) wird eine demenztypische Symptomatik aufgezeigt.

Ergänzung zu Blog 72

In Blog 72 sind unter dem Aspekt der Realitätsverkindlichung im fortgeschrittenen Stadium mehrere kleinkindähnliche Verhaltensweisen als wie z. B. Schubsen, Gegenstände wegnehmen und Zunge rausstrecken als Belege für kindliches Verhalten angeführt worden. Diese Verhaltensmuster können unwidersprochen als kleinkindähnlich klassifiziert werden. Man könnte sie nun zusätzlich auch noch als eindeutiges und offensichtlich kleinkindähnliches Verhaltensmuster bezeichnen, denn im Rahmen der Demenzpflegeforschung sind darüber hinaus verdeckte kleinkindähnliche Verhaltensmuster ermittelt worden, die oft nicht sofort als solche diagnostiziert bzw. erkannt werden können.

Verdecktes kleinkindähnliches Verhalten

Als „verdecktes kleinkindähnliches Verhalten“ (vorläufiger Arbeitsbegriff) werden bei Demenzkranken Verhaltensweisen bezeichnet, die auf den ersten Blick als typische Symptome eines krankhaften körperlichen oder psychischen Leidens im Formenkreis der Demenzen betrachtet werden. Zum Beispiel Schmerzen oder seelische Pein, die dann auch entsprechend behandelt werden. Abweichend hiervon handelt es sich bei einem verdeckten kleinkindähnlichen Verhalten um ein Verhalten, das nicht durch ein körperliches oder seelisches Leiden verursacht wird.

Wie in Blog 72 beschrieben, liegt der Grund für diese Verhaltensform in der Realitätsverkindlichung, einem allgemeinen Grunderleben innerer und äußerer Reizgefüge im fortgeschrittenen Stadium der Demenz. Erklärt werden kann diese demenztypische Verhaltenssymptomatik mit dem neurodegenerativen Abbauprozess entgegengesetzt der Hirnreifung (Retrogenese), der stark einem kleinkindähnlichen Verhalten ähnelt. Anhand des Schreiens als ein typisches Verhaltens- und Reaktionsmuster im schweren Stadium soll dieser Symptombereich erläutert werden. Vorab wird die Problematik des Schreiens und weiterer lauter und damit störender Vokaläußerungen anhand einiger Untersuchungen aus der Demenzforschung beschrieben.

Vokale Störungen wie Schreien u. a.

Ein äußerst gravierendes Verhaltenssymptom der Demenz vom Alzheimer Typ besteht aus den so genannten akustischen Störungen, das heißt u. a. Schreien, Klagen, Stöhnen, Jammern und Schimpfen. Diese eindringlichen Lautäußerungen können sich besonders negativ auf das soziale Milieu eines Wohnbereiches auswirken, indem sie bei den Mitbewohnern und auch bei den Mitarbeitern Unruhe und teils auch Furcht hervorrufen können. Dieses Verhalten wird ebenso wie der Bewegungsdrang bzw. das Wandern als ein demenzspezifisches Symptom der Unruhe oder Agitiertheit aufgefasst, das wie das Wandern mit dem Fortschreiten der Erkrankung zunimmt (Lai 1999, Lind 2000: 17, Lind 2007: 70f, Sloane et al. 1997, Sloane et al. 1999)

Das oben geschilderte akustische Verhalten ist bei den Bewohnern teils ständig, teils in zeitlichen Abständen (episodenhaft) und teils auch vereinzelt beobachtet worden. Die Dauer der Lautäußerungen reicht von einmaligen Rufen über minutenlanges Klagen bis zum ununterbrochenen Jammern und Schreien. Auch hinsichtlich der Lautstärke besteht eine relativ große Bandbreite, die vom leisen ständigen Flüstern oder Wispern bis hin zum gellenden, teils markerschütternden Schreien reicht (Lind 2007: 71). Die bei Demenzen auftretenden Lautäußerungen werden gegenwärtig vielschichtig erklärt (Cohen-Mansfield et al. 1997):

  • als Folge der neurologischen Zerstörung bestimmter Hirnregionen im Kontext des degenerativen Abbaus der Alzheimer-Demenz,
  • als Folge körperlicher Beschwerden und psychischen Leidens,
  • als Folge sensorischer Deprivation und sozialer Isolierung und
  • als erlerntes Konstrukt zwecks Verstärkung der Zuwendung durch das Pflegepersonal aufgefasst werden.

Alle bisherigen Beobachtungen zeigen, dass diese Lautäußerungen sowohl exogen, durch die überfordernde Person-Umwelt-Beziehung, als auch durch endogene Faktoren wie Schmerz und psychisches Leiden hervorgerufen werden. Aber auch durch das zeitgleiche Zusammenwirken endogener und exogener Faktoren werden diese Verhaltensweisen verursacht (Lind 2007: 70f).

Schreien als kleinkindähnliches Verhalten

Die von Cohen-Mansfield angeführten Erklärungsmodelle für die Ursache akustisch störender Verhaltensweisen lassen sich in biomedizinische und psychosoziale Verursachungskomponente unterteilen. Die Erklärungskonzepte „sensorische Deprivation und soziale Isolierung“ und „erlerntes Konstrukt zwecks Verstärkung der Zuwendung durch das Pflegepersonal“ können auch als verdecktes kleinkindähnliches Verhalten bezeichnet werden. Zwecks Bekräftigung dieser Annahme, dass Schreien zusätzlich auch durch eine kleinkindähnliche Welterfassung verursacht werden kann, werden im Folgenden einige Fallbeispiele aus der Praxis der Demenzpflege angeführt.

Fallbeispiele

Beispiel 1: Eine demenzkranke Heimbewohnerin stöhnte, schrie und rief stundenlang. Als man ihr jedoch Gelegenheit zum Abwaschen und Abtrocknen gab, was sie dann fast ohne Unterbrechung tat, hörten die belastenden Vokaläußerungen umgehend auf (Bowlby Sifton 2008: 101).

Beispiel 2: Eine Demenzkranke in einem Heim schrie und rief, ohne dass man einen medizinischen Grund für dieses Verhalten herausfinden konnte. Nur einer Pflegenden fiel auf, dass ihre Strümpfe mehrere Laufmaschen aufwiesen. Mit neuen Strümpfe verschwand sofort das Schreien und Rufen (Held 2013: 45ff).

Beispiel 3: Schreien und Rufen lässt sich auch durch einen Schaukelstuhl, das Vorspielen der Lieblingsmusik oder mit Puppen und Kuscheltieren beheben (Sachweh 2008: 198f).

Beispiel 4: Stundenlanges Hallo-Rufen konnte durch regelmäßiges Klopfen mit den Fingern auf den Rücken behoben werden (Schneberger 2008: 31). Laute Vokaläußerungen konnten auch durch leichtes Streicheln umgehend abgestellt werden (Persönliche Mitteilung).

Beispiel 5: Eine rollstuhlgebundene demenzkranke Heimbewohnerin wurde im Gemeinschaftsraum mit dem Gesicht zur Wand platziert, worauf sie ständig rief und stöhnte. Als man ihr einen Platz mit Blick auf das Gemeinschaftsgeschehen zuwies, hörte das Stöhnen und Rufen auf (Persönliche Mitteilung).

Konsequenzen für die Praxis

Für Personen ohne eine demenzielle Erkrankung bedeutet Schreien und Stöhnen meist Ausdruck eines Schmerzes oder eines massiven seelischen Leidens. Diese starken Lautäußerungen jedoch als eine bloße alltägliche Kommunikationsform ähnlich wie bei einem Säugling oder Kleinkind aufzufassen, fällt ohne nötiges Vorwissen bzw. Erfahrung nicht leicht. Und das macht oft das Erkennen dieser verdeckten kleinkindähnlichen Verhaltensweisen schwierig, wie die angeführten Fallbeispiele teilweise zeigen.

Literatur

  • Bowlby Sifton, C. (2007) Das Demenz-Buch. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Cohen-Mansfield, J. et al. (1990) Screaming in nursing home residents. Journal of the American Geriatrics Society, 38: 785 -792.
  • Cohen-Mansfield, J. et al. (1997). Typology of disruptive vocalization in older persons suffering from dementia. International Journal of Geriatric Psychiatry, 12, 1079 – 1091.
  • Held, C. (2013) Was ist „gute“ Demenzpflege? Demenz als dissoziatives Erleben – Ein Praxishandbuch für Pflegende. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lai, C. K. Y. (1999) Vocally disruptive behaviors in people with cognitve impairment: Current knowledge and future research directions. American Journal of Alzheimer’s Disease, 14 (3): 172–180.
  • Lind, S. (2000) Umgang mit Demenz. Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Methoden. Stuttgart: Paul-Lempp-Stiftung. https://www.svenlind.de/wp-content/uploads/2019/01/Wissen24LemppA.pdf
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Schneberger, M. et al. (2008) «Mutti lässt grüßen …» Biografiearbeit und Schlüsselwörter in der Pflege von Menschen mit Demenz. Hannover: Schlütersche.
  • Sloane, P. D. et al. (1997) Management of patient with disruptive vocalization. The Gerontologist, 37 (5): 675–682.
  • Sloane, P. D. et al. (1999) Severe disruptive Vocalizers. Journal of the American Geriatrics Society, 37 (4): 439–445.

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

Ein Gedanke zu “Die Realitätsverkindlichung (Teil 3)”

  1. ich bin immer wieder begeistert über Ihren Blog, lieber Sven Lind. Als Pflegedienstleiterin in einer Seniorenanlage mit Pflegetrakt habe ich dieses „verkindlichende“ Verhalten nicht deuten können. (Ich bin mittlerweile selbst in Rente). Ich habe versucht zu eruieren, wie ich den Betroffenen helfen könnte. Manche reagierten positiv auf basale Stimulation, andere auf eine für sie sinnvolle Beschäftigung. Ich erinnere mich an eine 89jährige Frau, die immer wieder „Ei, Ei, Ei“ rief. Wir haben alles versucht, was mit „Ei“ beginnt oder irgendwie mit dem Wortlaut zu tun hat. Zu Hause entdeckte ich bei meinem Nähzeug ein altes, hölzernes Stopfei von meiner Großmutter. Zu ihrer Zeit wurden Strümpfe ja gestopft. Ich nahm es mit zu er Dame und es ging ein Leuchten über ihr Gesicht. Ich besorgte Socken, in die wir Löcher fabrizierten und Stopfwolle passend dazu. Die Familie bestätigte, dass die Omi, als sie noch zu Hause lebte, immer die Socken der Familie repariert habe. Sie kehrten zu der alten Gewohnheit zurück und brachten sämtliche verschlissenen Teile mit zu der Bewohnerin, die sie dann liebevoll stopfte. Von da an hörte das Schreien auf. Das ist schon so lange her, aber ich habe es nie vergessen. Ich habe mit meinem Team damals dann immer versucht herauszufinden, warum manche dezenten Bewohner immer wieder das wiederholten. Einer Dame – es waren meist Frauen – spielte ich das „Ave Maria“ vor und sie wurde dann ganz ruhig. Ich brauchte es später nur zu summen und sie reagierte darauf. Deshalb finde ich das Erstellen einer Biografie in Alteneinrichtungen so wichtig. Frühere Kosenamen, liebe Gewohnheiten, Freunde, Hobbys, je mehr man weiß von den Menschen, desto eher kommt man auf die Idee, wie man ihnen helfen kann.

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