Der neurodegenerative Abbauprozess (Teil 2) ist der Inhalt des 76. Blogs. Es werden neurowissenschaftliche Erkenntnisse angeführt.
Vorbemerkungen
Es bedarf des Hinweises, dass das Wissen über die Komplexität unserer Hirnfunktionen teils noch sehr begrenzt ist. Wenn also Aussagen über Demenzen als Erkrankungen des zentralen Nervensystems gemacht werden, gilt es diesen Sachverhalt angemessen mit zu berücksichtigen. Diese gegenwärtige Begrenztheit des Wissens wird u. a. dann deutlich, wenn z. B. die Krankheitssymptomatik Angst sowohl neurobiologisch und parallel dazu neuropsychologisch erklärt werden muss. Das weist auf die noch fehlende Synthese objektiver und subjektiver Gegebenheiten zu einem in sich stimmigen Gesamtgefüge hin (Förstl et al 2006). Dieser Stand der Forschung in den Neurowissenschaften wird im Folgenden weiter ausgeführt.
Grenzen der Erkenntnisse
Durch eine Vielzahl von neuen Methoden und Vorgehensweisen, besonders den so genannten „Bildgebenden Verfahren“ wie z. B. der Computer-Tomografie (CT) und der Positronen-Emissions-Tomografie (PET), ist ein deutlicher Zuwachs an neurobiologischen Erkenntnissen über die Wirkungsweise des Gehirns zu verzeichnen. Die Hirnforschung erweitert ständig ihren Wissensstand, fast täglich werden neue Forschungsergebnisse publiziert. Auf der anderen Seite ist jedoch auch der Sachverhalt bekannt, dass die Erkenntniszuwächse überwiegend in den Makro- und Mikrobereichen des Gehirns lokalisiert werden können. In ihrem Manifest aus dem Jahr 2004 gestehen denn auch führende Neurowissenschaftler ein, dass ihr Wissen über die „mittlere Ebene“, das Geschehen innerhalb kleinerer und größerer Zellverbände, gegenwärtig noch recht spärlich ist. So ist u. a. noch ungeklärt, wie die Kommunikation der Nervenzellen untereinander abläuft, mit welchen „Codes“ sie in Verbindung treten und noch einiges mehr (Moyner et al. 2004).
Es kann in diesem Zusammenhang die Annahme formuliert werden, ob wir uns jemals das Wissen über unser Gehirn und seine Gesetzmäßigkeiten bis ins Detail werden aneignen können, ob nicht auch hier artspezifische Schranken der Erkenntnisgewinnung und letztlich auch des Verstehens vorliegen. All diese Fragen werden in den nächsten Jahrzehnten vielleicht beantwortet werden können, gegenwärtig sind sie jedoch noch eine „Terra incognita“. So wird z. B. der Forschungsstand zu Bewusstsein, Selbstbewusstsein und anderen Phänomenen der Wahrnehmung noch überwiegend von Annahmen und Hypothesen bestimmt, denn Neurobiologie und Neuropsychologie sind noch nicht zu einem Wissensstrang zusammengeschmolzen (Förstl et al. 2006).
Die Biowissenschaften und vor allem hierbei die Neurowissenschaften stehen immer noch vor den vielen Rätseln des Hirns und seines Wirkens und damit zugleich auch vor den Erkrankungen dieses zentralen und äußerst bedeutsamen Organs. Doch unermüdlich wird weiter an dieser Problematik gearbeitet, obwohl es manchmal an eine Sisyphusarbeit erinnert. (Eckoldt 2013, Förstl et al. 2006, Moyner et al. 2004, Jessen 2018).
Zur Neuropathologie der Alzheimer-Demenz
Der Stand der Forschung bezüglich des neurodegenerativen Abbauprozesses bei der Alzheimer-Demenz wird durch die neuroanatomischen Forschungen von Heiko Braak fundiert, demnach sich das Absterben der Nervenzellen entgegengesetzt der Hirnentwicklung vollzieht. Diesen Sachverhalt hat er an der Ausbreitung der Neurofibrillen im Hirn nachgewiesen. Diesen Prozess hat er in sechs Abbaustadien (Braak-Stadien) dargestellt (Braak et al. 1991). Ergänzend hierzu ermittelte der Neuropathologe Dietmar Rudolf Thal, dass sich die senilen Plaques ähnlich wie die Neurofibrillen ausbreiten, also ebenso entgegengesetzt der Hirnreifung. Dieses stereotyp hierarchische Muster verläuft in fünf Phasen: von der Großhirnrinde bis hin zum Kleinhirn und zur Pons. Dabei sind unterschiedliche Typen der Plaques (u.a. Beta-Amyloid-Plaques) im Einsatz (Thal 2018: 38ff).
Der zeitliche Abbauprozess vollzieht sich in zwei Phasen. In der ersten Phase breiten sich die toxischen senilen Plaques im Gehirn aus und in der zweiten Phase sterben die Nervenzellen anschließend aufgrund der Taupathologie ab und hinterlassen die Neurofibrillen. Aufgrund des Zusammenwirkens von toxischen Plaques und toxischen Tauproteinen bei dem neurodegenerativen Abbau der Alzheimer-Demenz wird diese Demenzform als eine sekundäre Tauopathie klassifiziert (Tacik 2018: 74).
Auch in der Demenzdiagnostik mittels bildgebender Verfahren (Magnetresonanztomographie) konnte das hierarchische Muster bei dem Gehirnschwund (Atrophie) der Alzheimer-Demenz nachgewiesen werden (Kilimann et al. 2018: 246).
Untersuchungen geben zu der Schätzung Anlass, dass die Krankheitsursache der Alzheimer-Demenz überwiegend von genetischen Faktoren (ca. 80 Prozent) bestimmt wird. Der Anteil des ApoE-4-Allels beträgt hierbei nur 27,3 Prozent, so dass der Großteil der Erblichkeit noch ungeklärt ist (Karaca et al. 2018: 86ff).
Sekundäre Demenzen
Im vorhergehenden Abschnitt wurde anhand der Alzheimer-Demenz aufgezeigt, dass bei neurodegenerativen Demenzen die Krankheitsursache überwiegend durch genetische Faktoren bestimmt wird. In diesem Abschnitt wird darauf verwiesen, dass bei sekundären Demenzen die Krankheitsursache externer und damit nichtgenetischer Herkunft ist. So liegt die Krankheitsursache bei diesen Demenzen außerhalb des Gehirns (Organerkrankung) oder wird durch sonstige Schädigungen, die ursächlich nicht im Hirn angesiedelt sind, ausgelöst. Folgende Krankheitsursachen für eine sekundäre Demenz werden u. a. angeführt (Kastner et al. 2007: 38, Stolze 2016: 184ff, Welz 1994: 41):
- Medikamentenvergiftung
- Alkohol
- Vergiftungen (u. a. Blei, Benzol, Quecksilber)
- Vitaminmangelerkrankungen (Folsäure, Vitamin B1, B3, B6, B12)
- Störungen des Salzhaushaltes (Elektrolytstörungen, Hyperkalziämie)
- Stoffwechselerkrankungen (u. a. Schilddrüsenunterfunktion, Niereninsuffizienz)
- Herz-Kreislauf-Insuffizienz
- Schädelhirntrauma
- Tumore
Es treten bei sekundären Demenzen zwar wie bei primären Demenzen Verwirrtheitszustände und auch Gedächtnisstörungen auf, die Ausdruck einer Fehl- oder Mangelversorgung des Gehirns sind. Bei angemessener Behandlung der organischen Grunderkrankung verschwinden in der Regel die dementiellen Symptome. Damit sind sekundäre Demenzen beeinflussbar bzw. behandelbar im Sinne einer Heilung. Die Häufigkeit sekundärer Demenzen liegt mit 10 – 20 Prozent deutlich niedriger als die der primären Demenzen mit 80 – 90 Prozent (Lind 2011: 34f).
Hinweis für die Pflegepraxis
Für die Pflegepraxis ist diese Unterscheidung von sekundärer und neurodegenerativer primärer Demenz von Bedeutung. Im Falle des Auftretens von Verwirrtheitszuständen bei Bewohnern ohne bisherige dementielle Symptomatik oder hirnorganische Diagnose sollte zuerst der Allgemeinmediziner oder Internist zur Untersuchung herangezogen werden. Erst wenn eine organische Grunderkrankung für die Symptome ausgeschlossen werden kann, steht eine neurologische Diagnostik an.
Literatur
- Braak, H. et al. (1991) Neuropathological staging of Alzheimer-related changes. Acta Neuropathologica, 82: 239-259.
- Eckoldt, M. (2013). Kann das Gehirn das Gehirn verstehen? Gespräche über Hirnforschung und die Grenzen unserer Erkenntnis. Heidelberg: Carl Auer Verlag.
- Förstl, H. et al. (Hrsg.) (2006) Neurobiologie psychischer Störungen. Berlin: Springer-Verlag.
- Karaca, I. et al. (2018) Genetik der Alzheimer-Krankheit. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (86-121).
- Kastner, U. et al. (2007) Handbuch Demenz. München und Jena: Urban & Fischer.
- Kilimann, I. et al. (2018) Bildgebende Diagnostik – Magnetresonanztomographie. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (230-248).
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber.
- Monyer, H. et al. (2004) Das Manifest. Elf führende Neurowissenschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung. Gehirn & Geist, 6: 31-37.
- Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23.
- Stolze, C. (2016) Verdacht Demenz. Freiburg: Herder Verlag.
- Tacik, P. (2018) Molekulare Mechanismen der Tau-Pathologie. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (64-79).
- Thal, D.R. (2018) Neuropathologie und molekulare Mechanismen. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (35-51).
- Welz, R. (1994) Epidemiologie psychischer Störungen im Alter. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsstudie in Duderstadt. Regensburg: Roderer.
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Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.