Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 7)

Geschätzte Lesedauer: 4 Minuten

Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 7) ist der Inhalt des 84. Blogs. Die Zusammenfassung des Abbauprozesses und die Kachexie und Exsikkose werden dargestellt.

Zusammenfassung Abbauprozess

In Blog 75 wird überblickartig der neurodegenerative Abbauprozess der Alzheimer-Demenz anhand des Ansatzes der Retrogenese (krankhafter Hirnrückentwicklungsverlauf) beschrieben. Das Kernelement hierbei ist die Parallelität zur Hirnreifung, wobei die Erkenntnisse von Jean Piaget die neuropsychologische Grundlage bilden. Dieses Konzept der Parallelität mit der Kindheitsentwicklung bietet einen theoretischen Orientierungsrahmen für die Pflegenden und Betreuenden im Umgang mit den Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium. Die Stadienbezogenheit des Verhaltens erleichtert die Einschätzung der noch vorhandenen Kompetenzen in der Alltagsbewältigung auf der Grundlage der bereits verlorengegangen Fähigkeiten (Defizitorientierung). Des Weiteren bietet diese Stadienbezogenheit des Abbauprozesses die Perspektive des weiteren Verlaufs der Erkrankung im Sinne einer Vorhersehbarkeit.

In Blog 80 steht der Sachverhalt im Mittelpunkt, Symptome des neurodegenerativen Abbaus von Verhaltensweisen zu unterscheiden, die von inneren und äußeren Reizgefügen verursacht werden. Es sind vor allem Akuterkrankungen und Stressphänomene, die es hierbei zu berücksichtigen gilt. In diesem Kontext steht die Ähnlichkeit oder auch Parallelität mit neurophysiologisch und neuropsychologisch beeinflussbaren Gegebenheiten im Gegensatz zu nicht beeinflussbaren Abbauphänomenen im Blickfeld.

In Blog 81 und Blog 82 werden die Diskonnektionsstörungen und Disinhibitionsstörungen im Wahrnehmen und Verhalten Demenzkranker u. a. anhand von Fallbeispielen beschrieben. Besonders bei den exterozeptiven diskonnektiven Wahrnehmungsstörungen (u. a. Unterscheidungs- und Verallgemeinerungsunfähigkeit) kann wieder auf die Parallelität mit der Kindheitsentwicklung verwiesen werden. Bei den interozeptiven diskonnektiven Selbstwahrnehmungsstörungen (u. a. fehlende Krankheitseinsicht) hingegen besteht vorrangig eine Parallelität zu anderen neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen. Es bedarf hierbei nochmals des Hinweises, dass es sich bei der Alzheimer-Demenz um eine neurodegenerative Demenz handelt, die als eine sekundäre Tauopathie klassifiziert wird (Tacik 2018: 74).

In Blog 83 wird aufgezeigt, wie das Handeln und auch das Sprechen im Laufe der Erkrankung einem geistigen Entkernungsprozess ausgesetzt ist. Aufgrund der Schritt für Schritt nachlassenden Exekutivfunktionen können u. a. komplexe Handlungsketten, die einer geistigen Kontrolle bedürfen, nicht mehr angemessen realisiert werden. Beim Reden wiederum geht zunehmend die Reflexivität der Inhalte verloren. Es kann hier von einem vorwiegend inhaltsfreien Sprechen ausgegangen werden, wobei das Bedürfnis zum Reden eher kommunikativen und beziehungsbetonten Impulsen geschuldet ist.

In Blog 75 ist im Rahmen des krankhaften Rückentwicklungsprozesses der Verlust alltagsbezogener Handlungskompetenzen (Probleme beim selbständigen Ankleiden und beim Toilettengang), der Verlust der Kontrolle über Harn und Stuhlgang und der zunehmende Verlust der Gehfähigkeit anhand der Reisbergskalen aufgezeigt worden.

All diese Verluste und Einbußen an Wahrnehmungs- und Handlungskompetenzen lassen sich auf neuropathologische Destrukturierungsprozesse in bestimmten Hirnarealen zurückführen, die teilweise auch bei anderen neurologischen Erkrankungen auftreten. Es kann somit hier auch von einem Kausalzusammenhang von Hirn und Verhalten ausgegangen werden. Und zwar dergestalt, dass dysfunktionalen Hirnstrukturen dementsprechend fehlerhafte und unzureichende Wahrnehmungen und Handlungen verursachen.

Weitere Krankheitsprozesse im Rahmen der Demenzen

Bisher sind überwiegend neurologische und neuropsychologischen Dysfunktionen als demenzspezifische Krankheitssymptome aufgeführt worden, die überwiegend dem neurodegenerativen Abbauprozess zugeordnet werden können. Im Folgenden werden ergänzend hierzu die internistischen und allgemeinmedizinischen Krankheitsbilder der Kachexie und der Exsikkose angeführt, die auch eng mit den demenziellen Erkrankungen verbunden sind. Da diese Krankheiten für die Pflege der Demenzkranken einen hohen Stellenwert besitzen, werden sie hier angeführt.

Kachexie und Exsikkose

Laut Wikepedia wird Kachexie als eine krankhafte, sehr starke Abmagerung bezeichnet. Es handelt sich um ein multifaktorielles Syndrom und eine Zusatzerkrankung, das bei verschiedenen chronischen Erkrankungen auftritt (u. a. Krebs und Autoimmunerkrankungen). Als Exsikkose wird laut Wikepedia in der Medizin die Austrocknung durch Abnahme des Körperwassers bezeichnet. Sie ist die Folge einer (starken) Dehydratation. Bei Demenzerkrankungen treten diese krankhaften Abmagerungs- und Austrocknungsprozesse besonders im fortgeschrittenen Stadium gehäuft auf und sind oft auch eine entscheidende Todesursache.

Bei einer Untersuchung der Todesursachen von Demenzkranken in den Niederlanden wurde festgestellt, dass ca. jeder Dritte an einer Kachexie und Exsikkose verstarb. Bei den Demenzkranken im finalen Stadium (Reisbergskala FAST Stadium 7d) stieg der Anteil der an Kachexie und Exsikkose Verstorbenen auf 53 Prozent an (Koopmans et al. 2007, Wojnar 2007: 23). In der Erhebung wurde des Weiteren festgestellt, dass ca. nur jeder siebente Demenzkranke das schwerste Stadium erreicht (Stadium 7 der Reisbergskalen – Reisberg et al. 1999).

Bisher wurde angenommen, dass Demenzkranke überwiegend an Herzkreislauferkrankungen bzw. Lungenentzündungen und Harnwegsinfekten versterben würden (Burns et al. 1990). Eine Erklärung für den Sachverhalt, warum die Kachexie eine dominante Todesursache im fortgeschrittenen Stadium der Demenz ist, liegt bisher nicht vor (Minaglia et al. 2019).

In diesem Zusammenhang lässt sich die Vermutung aufstellen, dass die Kachexie und die Exsikkose vor allem im finalen Stadium keine Sekundär- bzw. Zusatzerkrankungen ähnlich den Pneumonien bzw. Harnwegsinfekten (vermindertes Immunsystem) sind, sondern durch den neurodegenerativen Abbauprozess selbst verursacht werden. Dieser Abbauprozess ist jedoch nicht mit dem Abbau gemäß der Hirnrückentwicklung (Retrogenese) identisch, sondern sollte ein hiervon abweichendes oder ergänzendes Strukturprinzip besitzen. Vermuten ließe sich in diesem Kontext, ob hier eventuell pränatale und somit nicht postnatale Entwicklungsprozesse wie bei der Retrogenese von einem Abbau betroffen sein könnten.

Als Beleg für diesen abweichenden Degenerationsprozess lässt sich der Verlust des Schmerz- und Temperaturempfindens anführen (siehe Blog 6 und Blog 47). Diese Dysfunktion wird neuropathologisch wie folgt erklärt: Schmerzen durch Brüche oder auch Verbrühungen werden durch den Botenstoff Prostaglandin an die entsprechenden Nervenzellen im Gehirn weitergeleitet. Sind diese Nervenareale im fortgeschrittenen Stadium bereits abgestorben, so kann auch kein Schmerzimpuls aufgebaut werden (Jürgs 2006: 355).

Hinweise für die Praxis

Die Praxis in den Heimen und ebenso die einschlägige Forschung hat ergeben, dass die Behandlung der Kachexie im fortgeschrittenen Stadium der Demenz mit zusätzlicher Nahrungszufuhr (hochkalorisierte Nahrung oder so genannte „Astronautennahrung“) oft verbunden mit engmaschigen Gewichtskontrollen keine Wirkung zeigt (Maniglia et al. 2019). Sowohl für die Betroffenen als auch für die Pflegenden ist diese Nahrungszufuhr mit Belastungen verbunden. Angeordnet wird dies oft aus Furcht vor MDK-Kontrollen in den Heimen angesichts eines zu niedrigen Body-Maß-Indexes (BMI).

Bewährt hat sich in diesen Fällen oft die Vorgehensweise, sich ein ärztliches Attest bezüglich des Vorliegens einer Kachexie auf der Grundlage eines neurodegenerativen Abbauprozesses für die Betroffenen ausstellen zu lassen. Somit entfällt dann die Indikation für eine zusätzliche Nahrungsaufnahme.

Literatur

  • Burns, A. et al. (1990) Causes of death in Alzheimer`s disease. Age and Aging. 19: 341 – 344
  • Jürgs, M. (2006) Alzheimer. Spurensuche im Niemandsland. München: Bertelsmann Verlag
  • Koopmans, R. (2007) The ’natural‘ endpoint of dementia: Death from cachexia or dehydration following palliative care? International Journal of Geriatric Psychiatry 22(4):350-5
  • Minaglia, C. et al. (2019) Cachexia and advanced dementia. Journal of Cachexia, Sarcopenia and Muscle. Published online in Wiley Online Library (wileyonlinelibrary.com) DOI: 10.1002/jcsm.12380
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23
  • Tacik, P. (2018) Molekulare Mechanismen der Tau-Pathologie. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (64-79)
  • Wojnar, J. (2007) Die Welt der Demenzkranken – Leben im Augenblick. Hannover: Vincentz Verlag.

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert