Unruhe und Furcht der Demenzkranken (Teil 7) ist der Inhalt des 97. Blogs. Es werden Außenreize als Ursache von Belastungsempfindungen beschrieben.
Vorbemerkung
In den bisherigen Blogelementen zum Themenschwerpunkt Unruhe und Furcht wurden die Krankheitssymptome aus dem Bereich der Realitätsverluste und Realitätsverzerrungen als Ursachen genauer beschrieben (Blog 91 und folgende). In diesem Blog nun geht es um die Außenreize der unmittelbaren Umgebung, die zu Belastungs- und Stressphänomenen führen können. Es handelt sich hierbei um sensorische Reize, die mit den Sinnesorganen angemessen aufgenommen werden, die jedoch aufgrund des neurodegenerativen Abbauprozesses nicht mehr angemessen und damit verzerrt verarbeitet und erlebt werden. Anhand von mehreren Beispielen wird aufgezeigt, wie stark Demenzkranke von den Gegebenheiten ihrer unmittelbaren Umwelt und damit auch ihrem räumlichen Milieu abhängig sind.
Milieuabhängigkeit
In Blog 62 wird auf das Phänomen der Milieuabhängigkeit eingegangen. Die Milieuabhängigkeit bei Demenzkranken besteht aus dem Unvermögen, störende Reizquellen der unmittelbaren Umwelt zu ihren Gunsten zu regulieren. Darüber hinaus besteht es aus dem Unvermögen, diesen Eindrücken einen Sinn oder eine Bedeutung zuzuordnen. Wenn das laute Telefonläuten nicht mehr als Telefonläuten verstanden werden kann, sondern nur noch als ein unangenehm lautes Geräusch, dessen Ursache man sich nicht zu erklären weiß, dann entstehen leicht Unsicherheit und Angst. Wenn akustische Reize wie das Telefonläuten nicht mehr zugeordnet werden können, bezeichnet man das als akustische Agnosie (siehe Blog 2).
Diese fehlende Umweltkompetenz macht Demenzkranke extrem hilflos und zugleich hilfebedürftig. Das heißt, sie sind bereits im mittelschweren Stadium auf Unterstützung und Begleitung angewiesen, will man Überforderung und Stress bei den Betroffenen vermeiden. Konkret bedeutet dies, das Milieu oder die Lebenswelt für Demenzkranke auf dieses Unvermögen einer selbständigen Umweltbeherrschung hin auszurichten, indem sichernde und begleitende Faktoren wie Beistand und Aufsicht Bestandteile dieser Lebenswelt werden. Diese Begleitung geschieht in der Regel dezent und hintergründig, die Betroffenen erleben kaum, dass sie sich im Blickfeld der Mitarbeiter befinden.
Demenzspezifische Reizanpassung bedeutet in diesem Zusammenhang, das Milieu zugleich mit für die Betroffenen nicht wahrnehmbaren Schutz- und Kontrollmechanismen zu versehen, die derart indirekt und versteckt wirken, dass die Demenzkranken sich im Vollbesitz einer selbst bestimmten Lebensgestaltung erleben (Lind 2011: 134).
Visuelle Reize
Der neurodegenerative Abbauprozess der Demenz führt zu verschiedenen Formen der Verzerrung visueller Impulse, wie im Folgenden anhand der Krankheitssymptome illusionäre Verkennung und fehlende Tiefenwahrnehmung gezeigt wird.
Illusionäre Verkennungen
In Blog 10 wird auf die Krankheitssymptomatik der Fehlwahrnehmungen mit Belastungscharakter eingegangen. Dabei handelt es sich um illusionäre Verkennungen eines Außenreizes, wie folgende Beispiele zeigen:
Beispiel 1: Eine Bewohnerin hielt die Kohlroulade auf dem Teller ihrer Mittagsmahlzeit für den Kopf eines toten Kindes und war entsprechend entsetzt hierüber (Lind 2011: 211).
Beispiel 2: Ein Garderobenständer im Flur wurde für eine fremde und bedrohliche Person gehalten und verunsicherte eine Bewohnerin (Lind 2011: 212).
In beiden Fällen war die sofortige Entfernung der Belastungsimpulse aus dem Gesichtsfeld gemäß der Erkenntnis „aus den Augen, aus dem Sinn“ das wirksame Entlastungsmoment. Erklärt werden können die Fehlwahrnehmungen mit der neurodegenerativ verursachten Unterscheidungsunfähigkeit (siehe Blog 1).
Es bedarf des Hinweises, dass auch Fehlwahrnehmungen ohne Belastungscharakter beobachtet werden. So wurde z. B. von einer Demenzkranken berichtet, die sich ganz entspannt mit ihrem Waschlappen unterhielt. Da keine Belastungssymptomatik vorlag, wurde hier nicht interveniert.
Fehlende Tiefenwahrnehmung
In Blog 4 wird anhand von zwei Beispielen die Störung der Tiefenwahrnehmung mitsamt den damit verbundenen Reaktionen beschrieben:
Beispiel 1: Der Schatten auf dem Boden eines fensterreichen Verbindungsganges wird von den Demenzkranken als Abgrund wahrgenommen mit der Folge, dass sie abrupt stehen bleiben, nach unten schauen und wieder umdrehen (Lind 2011: 99).
Beispiel 2: Eine rosafarbene Serviette wird von einer Bewohnerin für ein Stück Fleisch gehalten und entsprechend mit Messer und Gabel bearbeitet (Lind 2011: 99).
Die Beispiele verdeutlichen eine gravierende Wahrnehmungsminderleistung dahingehend, dass alle Reizgefüge mit der Qualität Körperlichkeit verknüpft werden. Das Hirn vermag aufgrund des Abbauprozesses nicht mehr zwischen Körper und Fläche zu differenzieren. Somit ist alles körperlich und wird dementsprechend auch behandelt. Es liegt hier also eine gestörte Tiefenwahrnehmung vor, die als eine spezielle Form der Unterscheidungsunfähigkeit klassifiziert werden kann (siehe Blog 1).
Raumtemperatur
In Blog 62 wird auf die Thematik Raumtemperatur als ein Belastungsphänomen eingegangen. So ist wiederholt beobachtet worden, dass demenzkranke Bewohner sehr sensibel auf die Raumtemperatur reagieren. Auch Zugluft stellt eine Belastung dar. Als Richtwert kann daher eine Raumtemperatur empfohlen werden, die von den Bewohnern auch bei leichter Bekleidung (Nachthemd u. a.) als angenehm empfunden wird. Die Raumtemperatur wirkt sich somit auch auf das Verhalten und das Wohlbefinden der Demenzkranken aus. Bei einer angenehmen und damit auch angemessenen Raumtemperatur zeigen die Bewohner einen deutlichen geringeren Grad an Unruhe und störendem Verhalten. Auf der anderen Seite konnte bei einer unangemessenen Raumtemperatur ein niedriges Ausmaß an Wohlbefinden beobachtet werden (Marquardt et al. 2014).
Sensorische Über- und Unterstimulierung
In Blog 62 wird des Weiteren auf den Milieufaktor sensorische Über- und Unterstimulierung eingegangen. Eine Reihe von Untersuchungen belegen, dass Demenzkranke äußerst sensibel auf sensorische Über- und Unterstimulierungen ihres Milieus reagieren (Hall et al. 1987). Es hat sich gezeigt, dass Demenzkranke auf bestimmte akustische und optische Stimulierungen wie z. B. Telefonklingeln, Rufen und laute Radio- und Fernsehbeschallung mit hektischen Verhaltensweisen reagieren. Diese Erfahrungen hat man in den USA zum Anlass genommen, die Reizzufuhr entsprechend dem Belastungsniveau zu regulieren. Ein Beispiel hierfür sind die so genannten „low stimulus units“ (Wohnbereiche mit geringerem akustischen und optischem Reizniveau): die Bewohner dieser Wohnbereiche reagieren auf die gezielte Reizminderung überwiegend mit ruhigeren Verhaltensweisen (Cleary et al. 1988, Johnson 1989, Meyer et al. 1992).
Auf der anderen Seite ist festgestellt worden, dass auch Unterstimulierungen (ein Mangel an Reizen) bei Demenzkranken Reaktionen mit teils agitierten Verhaltensweisen hervorrufen. In reizarmen Milieus wurde beobachtet, wie Bewohner hierauf mit Aktivitäten der Selbststimulierung reagierten: So produzierten Demenzkranke in äußerst stillen Wohnbereichen verschiedenartigste Geräusche, um die belastende Ruhe oder Totenstille zu beheben (Sloane et al. 1997). In einem Heim, in dem man die Bewohner an den Wochenenden oft aus Personalmangel in den Betten ließ, wurde an dem darauf folgenden Tag ein besonders intensives Bewegungsverhalten (Wandern auf Station) beobachtet. Dieses Verhalten kann so interpretiert werden, dass die Betroffenen den Entzug an Eigen- und Fremdstimulierung durch die längere Bettgebundenheit durch erhöhte Eigenaktivität auszugleichen versuchten (Lind 2007: 65, Lind 2011: 158f).
Literatur
- Cleary, T. A. et al. (1988) A reduced stimulation unit: effects on patients with Alzheimer’s disease and related disorders. The Gerontologist, 28 (4): 511–514
- Hall, G. R. et al. (1987) Progressively lowered stress threshold: a conceptual model for car of adults with Alzheimer’s disease. Archives of Psychiatric Nursing, 1 (6): 399–406
- Johnson, C. J. (1989) Sociological intervention through developing low stimulus Alzheimer’s wings in nursing homes. The American Journal of Alzheimer’s Care and Related Disorders and Research, 4 (2): 33–41
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Marquardt, G. et al. (2014) Impact of the design of the built environment on people with dementia: An evidence-based review. Health Environments Research & Design Journal, 8(1), 127–157
- Meyer, D. L. et al. (1992) Effects of a ‘quiet week’ intervention on behavior in an Alzheimer boarding home. The American Journal of Alzheimer’s Care and Related Disorders and Research, 7 (4): 2–7
- Sloane, P. D. et al. (1997) Management of patient with disruptive vocalization. The Gerontologist, 37 (5): 675–682
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Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.