Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 8) sind der Inhalt des 105. Blogs. Es werden Umgangsstrategien bezüglich des Belastungserlebens bei der Pflege angeführt.
Nachtrag
In Blog 104 ist die Interventionsform Löschung anhand von zwei Fallbeispielen aus dem Bereich des spontanen Desorientierungsverhaltens aufgezeigt worden. Es handelt sich dabei um intuitive und damit angeborene Verhaltensmuster, die letztlich der Ablenkung und Beruhigung dienen. Es gilt nun aus Gründen der Vollständigkeit den Sachverhalt nachzutragen, dass auch bei anderen Realitätsverlusten die Löschung eine äußerst wirksame Beeinflussungsstrategie darstellt.
In Blog 9 wird die Krankheitssymptomatik wahnhafte Halluzination mitsamt den effektiven Umgangsformen dargestellt. Auch hier kommen vorrangig Löschungsstrategien zum Einsatz. Wenn z. B. eine Demenzkranke in ihrer Angst „Murmeltiere“ unter ihrem Bett wähnt, dann gilt es umgehend, diesen Realitätsverlust zu beseitigen (Löschung oder Extinktion). Demonstrativ mit einem Besen wird das Trugbild „Murmeltiere“ dann entfernt.
In Blog 10 wird beschrieben, wie bei Fehlwahrnehmungen mit Belastungscharakter ebenfalls intuitiv das Löschen als Lösungsimpuls praktiziert wird. Wenn z. B. eine Kohlroulade für den Kopf eines toten Kindes oder ein Garderobenständer für eine bedrohliche Person gehalten wird, dann heißt es, umgehend diese belastenden Reizgefüge zu entfernen. Also eine Löschung gemäß der Devise „aus den Augen aus dem Sinn“ (Lind 2011: 80).
Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien
Ein großer Stressfaktor in der Lebenswelt Demenzkranker im Pflegeheim besteht aus der unmittelbaren Körperpflege (Ausziehen, Waschen und Ankleiden), weil hier die Reizintensität extrem hoch ist. Um die Belastungen hierbei zu verringern, sind bereits viele Blogs hierzu erstellt worden: u. a. zur Pflegeermöglichung (Blog 27 und folgende), Pflegeverweigerung (Blog 33 und folgende) und Pflegeerschwernis (Blog 40 und folgende). In diesem Blog werden nun Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien angeführt, die das Belastungserleben in der Pflege deutlich vermindern.
Doppelstrategien
In Blog 14 werden Umgangsformen gezeigt, die bei der Pflege die Funktion der Ablenkung und damit zugleich auch Beruhigung besitzen. Aus diesem Grund werden sie „Doppelstrategien“ bezeichnet. Die folgenden Fallbeispiele zeigen das Spektrum von wirksamen Ablenkungsstrategien.
Strategie „fiktive Selbstpflege“
Demenzkranke sind oft mit einem Pflegeprozess dergestalt überfordert, dass sie bereits nach wenigen Minuten unruhig werden und Anzeichen von Unwillen und beginnendem Stress zeigen. Um sie nun von der belastenden Pflegeprozedur abzulenken, wird ihnen die „fiktive Selbstpflege“ eingeredet bzw. weisgemacht. Es handelt sich hierbei um eine suggestive Beeinflussung, wie folgendes Beispiel zeigt:
Beispiel: Einer Bewohnerin wurde am Waschbecken ein nasser Waschlappen mit der Aufforderung, sich das Gesicht zu waschen, in die Hand gedrückt. Die Pflegende teilte ihr dabei mit, dass sie ihr bei der Pflege etwas helfen würde. Während nun die Demenzkranke mit ständiger verbaler positiver Unterstützung der Pflegenden („Das machen Sie aber prima, weiter so!“) mit dem Waschlappen im Gesicht zugange war, wurde parallel die restliche Körperpflege vollzogen, ohne dass die Demenzkranke dies bemerkte (persönliche Mitteilung).
Strategie „In die Vergangenheit zurückführen“
Pflegende sind oft mit der Lebensgeschichte der Demenzkranken vertraut und wissen somit um die emotional bedeutsamen Ereignisse bzw. Perioden ihrer Biografie (Altbiografie). Dieses Wissen nutzen sie meist intuitiv, um die Bewohner von den sie überfordernden Gegebenheiten der Pflegehandlungen abzulenken. Es handelt sich hierbei um die Aktivierung positiver episodischer Gedächtnisinhalte, wie das folgende Beispiel zeigt:
Beispiel: Eine Pflegende wusste um den früheren beruflichen Kontext einer demenzkranken Bewohnerin (Hutmacherin mit eigenem Geschäft), die aus Furcht vor der Pflege immer in den Zustand einer Schockstarre geriet. Bevor die Pflegende mit der Pflege begann, wurde die Betroffene mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, indem die Mitarbeiterin ihr fast schon ritualisiert immer dieselben Fragen über ihre Tätigkeit und ihr Geschäft (Hutmoden, Kunden, Umsatz etc.) stellte. Während die Bewohnerin enthusiastisch über ihr Leben berichtete, wurde sie gleichzeitig ausgezogen, gewaschen und wieder angezogen, ohne dass sie sich dagegen sträubte (Lind 2007: 147, Lind 2011: 127).
Verstärkungsstrategien
In Blog 17 werden Verstärkungsstrategien beschrieben, die vorrangig der psychischen Stabilisierung und damit der Beruhigung bei den Pflegehandlungen dienen. Auch dabei werden intuitiv verschiedene Umgangsformen eingesetzt, die die folgenden Beispiele zeigen.
Begrüßungsrituale
Zusätzliche Begrüßungsrituale bilden Verstärkungselemente in der Wahrnehmung des situativen Zusammenhanges. Diese Reizgefüge leiten ähnlich einem Schlüsselreiz auf die bevorstehende Pflegehandlung hin. Es handelt sich somit um eine klassische Konditionierungsmaßnahme, wie die folgenden Beispiele zeigen:
Beispiele: Demonstrativ bei der Begrüßung die Hand schütteln oder ein bestimmtes Streicheln der Wange oder des Kopfes – einen bestimmten Spruch aufsagen (z. B. „Morgenstund hat Gold im Mund“) – deutliche Gesten wie in die Hände klatschen – eine Tasse Kaffee vor der Pflege anbieten (Lind, 2007: 145).
Musik, Gerüche und vertraute Gegenstände
Mehrere Sinnesorgane mit zusätzlichen Reizen anzuregen, verstärkt und aktiviert das Erkennen der anstehenden Interaktion „Pflegeprozess“. Das Hören, Riechen und Sehen vertrauter Auslösereize erleichtert das Zuordnen der Situation.
Beispiele: Eine besondere „Pflegebegrüßungsmusik“, die jeden Morgen bei der Kontaktaufnahme gespielt wird (Kassette oder CD) – bestimmte Gerüche, die eine Verbindung zur Körperpflege besitzen wie z. B. Parfüm, Seife, Deos oder Cremes – das demonstrative Zeigen eines Waschutensils (der „rote Waschlappen“ oder der „braune Kamm“ etc.) (Lind 2011: 182, Wojnar 2007: 133).
Belohnungsanreize
Ein gewichtiges Element besteht aus dem Einsatz von Anreizen oder Belohnungen für die Mitarbeit oder Pflegebereitschaft. Dabei kann es sich um ganz reale Belohnungen handeln, die für die Bewohner einen hohen Wohlfühlfaktor besitzen.
Beispiele: Das Zeigen von Schokolade oder Keksen mit dem Hinweis, dass nach der Morgenpflege genascht werden darf oder das Zeigen einer Zigarette, die nach der Morgenpflege geraucht werden darf (Lind 2007: 141, Camp 2015: 108).
Es besteht bei diesen Vorgehensweisen ein enger Zusammenhang zu dem in Blog 14 angeführten Vorgehen „Perspektive geben“. Bei beiden Umgangsformen werden positive und begehrliche Impulse oder Reize offeriert, die für die Demenzkranken ein Aktivierungspotential bilden.
Die Einbeziehung von Puppen und Kuscheltieren
Ein weiteres Vorgehen bei der Kontaktaufnahme vor der Morgenpflege besteht aus dem Einsatz vertrauter Puppen und Kuscheltiere der Demenzkranken.
Beispiele: Bewohner, die recht zögerlich und leicht verunsichert bei der Kommunikation wirken, entspannen sich leichter, wenn die Pflegenden die ihnen vertrauten Puppen oder Kuscheltiere ebenfalls mit Namen begrüßen und in den weiteren Handlungsverlauf mit einbeziehen. Des Weiteren werden Puppen oder Kuscheltiere auch bei einer Pflegeverweigerung eingesetzt, indem die anstehenden Pflegehandlungen anhand der Puppen vorgemacht werden (Lind 2011: 144, Stuhlmann 2004: 96ff).
Literatur
- Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Stuhlmann, W. (2004): Demenz – wie man Bindung und Biografie einsetzt. München: Reinhardt
- Wojnar, J. (2007) Die Welt der Demenzkranken – Leben im Augenblick. Hannover: Vincentz Verlag
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Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.