Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 10)

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Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 10) sind der Inhalt des 107. Blogs. Es werden Strategien des Vollständigkeitskonzeptes angeführt.

Vorbemerkung

Auch in diesem Blog geht es um Wohlbefinden und damit das psychosoziale Gleichgewicht der Demenzkranken. Vorab gilt es doch darauf hinzuweisen, dass Modelle und Einstellungen existieren, die diesem Ansinnen konträr entgegenstehen. In Anlehnung an Formen einer „Schwarze Pädagogik“ können sie als Konzepte einer „Schwarzen Demenzpflege“ bezeichnen werden. „Schwarz“ sind diese Vorgehensweisen, weil sie teils aus Unwissen oder aufgrund einer normativ-ideologischen Anschauung letztlich dem Wohl der Demenzkranken diametral entgegenstehen, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Das Konzept der „Realitätsorientierungstherapie“ (ROT) stellte in den 80er Jahren zumindest in Deutschland die einzig bekannte Beeinflussungsform im Umgang mit Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium dar. Die ROT bestand im Wesentlichen aus dem Vorgehen, bei Realitätsverlusten wie der Suche nach der Mutter den Betroffenen klar zu machen, dass die Mutter doch längst verstorben wäre. So hoffte man wohl aufgrund fehlenden Wissens, die beunruhigte Demenzkranke wieder in die „Realität“ zurückführen zu können. Dass durch den Hinweis auf den Tod der Mutter die Betroffenen nun noch aufgeregter und verzweifelter wurden und dieser Aussage auch keinen Glauben schenkten, fand in dem Modell keine Berücksichtigung (Schwenk 1979, Dietch et al. 1989, Lind et al. 1990).

Ähnlich verhält es sich mit dem Kitwood-Ansatz. Auch bei diesem Konzept ist die Realität oder die „Normalität“ der entscheidende Bezugsrahmen. Jedwede Abweichung von dieser Sichtweise wird aus normativ-ideologischen Gründen als Lug und Trug diskreditiert („maligne bösartige Sozialpsychologie“). So wird dann auch in diesem Ansatz Unruhe und Stress bei der Suche nach der Mutter als Alltagsnormalität hingestellt, die keiner therapeutischen Beeinflussung bedarf (Kitwood 2000, Müller-Hergl 2009, siehe auch Blog 77 und folgende).

In den folgenden Ausführungen stehen nun nicht die „Realität“ oder die „Normalität“ im Mittelpunkt, sondern die Eigenwelten der Erkrankten, die überwiegend von den episodischen Langzeitgedächtnisinhalten der Altbiografie bestimmt werden (siehe Blog 91). Wie im Folgenden gezeigt wird, gelangen hier neben Faktoren des Verdinglichungskonzeptes wichtige Inhalte des Vollständigkeitskonzeptes ins Zentrum. Mittels dieser Vorgehensweisen gelingt es, die psychosoziale Balance zwischen Innenwelt in Gestalt der Gedächtnisinhalte und Außenwelt in Gestalt der äußeren Reizgefüge zu einem Ganzen zu verbinden. So entsteht eine Eigenwelt speziell für die unruhige Demenzkranke in ihrer temporären Desorientierung (z. B. „Mutter suchen“).

Das Vollständigkeitskonzept

In Blog 54 wird gezeigt, dass bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium immer wieder beobachtet wird, dass sie nach vertrauten Personen und teils auch Orten ihrer Lebensgeschichte verlangen. Es kann ihnen nicht klargemacht werden, dass z. B. die Eltern oder der Ehepartner bereits verstorben sind. Erklärt werden kann dieser Realitätsverlust mit dem Sachverhalt, dass die Erinnerungen, die teils in Tagträumen wieder ins Bewusstsein dringen, aufgrund des fehlenden Realitätsfilters als reale Gegenwart aufgefasst werden (siehe u. a. Blog 8 und Blog 12).

Für die individuelle Eigenweltgestaltung des jeweilig Betroffenen bedeutet dies, die fehlenden Elemente aus dem Kontext der Erinnerungen durch verschiedene Vorgehensweisen und auch Gegenstände zu ersetzen, damit die Eigenwelt gemäß den Erinnerungen wieder vollständig wird. Neben den Ersatz- oder Surrogatstrategien (siehe weiter unten) haben sich teilweise auch Verdinglichungsstrategien für die Erklärung der Abwesenheit der ersehnten Person aus der Vergangenheit bewährt. Wenn z. B. eine Demenzkranke nach ihrem verstorbenen Ehemann verlangt, dann wird ihr ein fingierter Arztbrief gezeigt, aus dem hervorgeht, dass der Gatte noch weitere drei Wochen in einer Rehabilitationseinrichtung zubringen muss.

Ersatz- oder Surrogatstrategien

Ersatz – oder Surrogatstrategien bedeuten, wie in Blog 54 beschrieben, für nachgefragte Personen und manchmal auch Haustiere und Örtlichkeiten der Lebensgeschichte, die ins Bewusstsein dringen, einen akzeptablen fiktiven Ersatz zu stellen. Es können Mitarbeiter, Puppen, Plüschtiere und manchmal auch nur Fotos sein, die den aufgeregten oder sich sorgenden Demenzkranken offeriert werden. Die folgenden Beispiele verdeutlichen das Spektrum an Lösungsstrategien, die relativ oft, aber nicht immer die erhoffte Wirkung bei den Betroffenen erzielen:

Mitarbeiter als Personenersatz

Manchmal verlangen Demenzkranke nach näheren Angehörigen wie Sohn oder Tochter. Hier schlüpfen dann oft Pflegende und Betreuende in die Rollen der gewünschten Personen. Manchmal wird auch nach Personen einer bestimmten Berufsgruppe wie Pfarrer, Arzt oder Polizist gefragt, die den Demenzkranken im Zustand eines Realitätsverlustes Hilfe und Unterstützung geben sollen. Auch hier nehmen dann Mitarbeiter teils mittels Verkleidung diese Positionen ein (Lind 2011: 261, Röse 2017: 304).

Foto als Personenersatz

Eine Demenzkranke weigerte sich, ohne ihren bereits verstorbenen Ehemann die Mahlzeiten einzunehmen. Daraufhin wurde ihr ein Foto des Verstorbenen auf den Tisch gestellt. Das Bild wurde als Ersatz akzeptiert (persönliche Mitteilung). Die Wirksamkeit dieser Intervention kann mit der Wahrnehmungsstörung Störung der Tiefenwahrnehmung erklärt werden, die auch bei Kleinkindern beobachtet wurde (Siegler 2016: 166, siehe auch Blog 4)

Puppe als Personenersatz

Eine Demenzkranke sorgte sich ständig voller Angst um ihren Sohn „Hans Holm“, den keiner bisher gesehen hatte. Da beruhigende Worte hier nichts nutzten und die Pflegenden selbst das Leiden kaum noch ertragen konnten, entschloss man sich, ihr eine Puppe mit den Worten „da ist dein Hans“ in die Hand zu drücken. Die Betroffene akzeptierte diese Lösung und hegte und pflegte von da an den ganzen Tag ihren „Hans“ (Lind 2011: 205).

Plüschtier als Haustierersatz

Eine Bewohnerin war ständig auf der Suche nach ihrem vermissten Hund „Lulu“. Sie machte sich regelrecht Sorgen um ihn. Daraufhin wurde gemeinsam mit einer Pflegenden „Lulu“ (ein Stoffhund) unter dem Bett gefunden. Das Stofftier wurde als das vermisste Haustier akzeptiert und damit angenommen (persönliche Mitteilung).

Orte

Es kommt vor, dass Demenzkranke ein starkes Verlangen nach einem vertrauten Ort wie ihrem alten Arbeitsplatz haben. Es wird dann das Bewohnerzimmer durch ein weiteres Möbelstück wie einen kleinen Schreibtisch zu einem „Büro“ umgewandelt, vielleicht noch mit eigener Schreibmaschine und bekannten Formularen und Stempeln (Lind 2007: 11).

Weitere Ersatz- oder Surrogatstrategien

In Blog 55 werden weitere Beeinflussungsformen als wirksamer Personenersatz im Rahmen des Vollständigkeitskonzeptes dargestellt, wie folgende Beispiele zeigen.

Medien

Unruhige und suchende Demenzkranke können mittels Tonbandaufnahmen und auch Videos, die die Gegenwart und damit Präsenz nächster Angehöriger simulieren, begrenzt abgelenkt und dadurch auch beruhigt werden (Baker 2016: 56, James 2013: 93, Lind 2000: 38, Lind 2007: 72). Auch fiktive Telefonate führen zur deutlichen Minderung des Belastungsniveaus (Elvén 2020: 66f).

Schriftliche Nachrichten

Erfahrungen aus den Heimen zeigen, dass manchmal auch Schriftliches völlig ausreicht, um die fehlende Gegenwart eines Verstorbenen oder eines Lebenden, der nicht zum Besuch erscheint, zu erklären. Hierbei werden z. B. Ansichtskarten aus dem Urlaub verwendet, die den Sachverhalt belegen, dass erst in einigen Wochen nach Urlaubsende mit dem Besuch gerechnet werden kann. Oder eine fiktive Arztbescheinigung wird gezeigt, aus der hervorgeht, dass der Aufenthalt in der Rehabilitationsklinik noch weiter andauern wird.

Kartoffelsack

Aus einem Altenpflegeheim in Schleswig-Holstein wurde der Fall berichtet, dass ein Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr ohne seine bereits verstorbene Ehefrau schlafen konnte. Der Betroffene war derart verzweifelt, dass er bereits Suizidversuche (Strangulierung) unternommen hatte. Um dieses Belastungserleben zu beheben, legt man nachts einen mit Füllmaterialien ausgestopften Kartoffelsack neben ihn ins Bett mit dem Hinweis, dass es sich hierbei um seine Gattin handeln würde (persönliche Mitteilung).

Literatur

  • Baker, C. (2016) Exzellente Pflege von Menschen mit Demenz entwickeln. Bern: Hogrefe
  • Dietch, J.T. et al. (1989) Adverse effects of reality orientation. Journal of the American Geriatrics Society, 37 , 10, 974 – 976
  • Elvén, B. H. et al. (2020) Herausforderndes Verhalten bei Demenz, München: Ernst Reinhardt Verlag
  • James, I. A. (2011) Herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz, Bern: Verlag Hans Huber
  • Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. et al. (1990) Milieu für Demente. Deutsche Krankenpflege-Zeitschrift, 43, 10, 744 – 747
  • Lind, S. (2000) Umgang mit Demenz. Wissenschaftliche Grundlagen und praktische Methoden. Stuttgart: Paul-Lempp-Stiftung. https://www.svenlind.de/wp-content/uploads/2019/01/Wissen24LemppA.pdf
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Müller-Hergl, C. (2009) Stress rechtfertigt keine Lügen. Pflegen: Demenz 4 (11) 30-32
  • Röse, K. M. (2017 Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe
  • Schwenk, M. A. (1979). Reality orientation for the institutionalized aged: Does it help? The Gerontologist, 19 , 373 – 377
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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