Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 16)

Geschätzte Lesedauer: 4 Minuten

Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker (Teil 16) sind der Inhalt des 113. Blogs. Es werden stadienbezogene Umgangsformen bei der Pflege angeführt.

Vorbemerkung

In Blog 112 sind Umgangsformen und Verhaltensweisen beschrieben worden, die sowohl bei Demenzkranken als auch bei Kleinkindern angewendet werden. Hierbei handelt es sich überwiegend um intuitives Verhalten. Es sind angeborene Verhaltensmuster, die ohne vorherige Überlegungen quasi aus dem Bauch heraus praktiziert werden. Auch in diesem Blogelement werden Kommunikationsformen vorgestellt, die ebenfalls sowohl in der Demenzpflege als auch in der Kleinkindpflege intuitiv und spontan Anwendung finden. Sie sind bereits in Blog 20 und Blog 101 angeführt intuitives worden, doch es ist im Zusammenhang der Entwicklung eines theoretischen Konzepts der Demenzpflege unabdingbar, auf diesen Sachverhalt wiederholt hinzuweisen.

In Blog 72 und folgende ist eingehend der Tatbestand beschrieben worden, dass eine Parallelität zwischen Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium und Kleinkindern bezüglich der Erfassung und Verarbeitung innerer und äußerer Reizgefüge besteht. Im Begriff Realitätsverkindlichung wird diese enge Verknüpfung zum Ausdruck gebracht. Von Bedeutung für die Demenzpflege und Demenzbetreuung ist jedoch nicht nur der Sachverhalt, dass Demenzkranke krankhaft verkindlichen (siehe auch Blog 35). Ebenso wichtig ist der Umstand, dass die Pflegenden und Betreuenden sich hierzu ergänzend unbewusst und spontan durch ihr Verhalten und ihre Kommunikationsformen diesen Gegebenheiten anpassen.

Der zentrale zwischenmenschliche Handlungsimpuls besteht aus dem Angleichen und Anpassen, den Pflegende und oft auch Betreuende meist unbewusst und intuitiv handhaben. Auf diese Weise stellen sie eine angemessene Person-Umwelt-Passung für die Demenzkranken her, wobei hierbei die Mitarbeiter und oft auch pflegende Angehörige das entscheidende Element der Umwelt bilden. Pflegende und Betreuende verhalten sich dabei unbewusst wie Mütter im Umgang mit ihren Kindern: liebevoll zugewandt und gleichzeitig auch sensibel leitend und lenkend (Helleberg et al. 2014, Siegler et al. 2016).

Umgang in der Pflege

Die Kommunikation zur Beruhigung bei der Pflege Demenzkranker wirkt wie ein psychischer Puffer zur Vermeidung von Überstressreaktionen und den damit verbundenen Abstürzen in Realitätsverluste. Die Kommunikation in verbaler und nonverbaler Form mit beruhigenden Elementen besitzt darüber hinaus auch bei Demenzkranken den Effekt, Wohlbefinden und Behagen herbeizuführen bzw. zu steigern.

Hierbei steht der Beziehungsaspekt der verbalen und taktilen Impulse im Zentrum. Die Demenzkranken sollen die Zugewandtheit, Freundlichkeit und die emotionale Wärme der Worte und Berührungen spüren. Es steht hier die Mütterlichkeit („Mama-Prinzip“ oder auch stadienbezogenes Anpassungsverhalten) im Vordergrund, denn die Angesprochenen sind im fortgeschrittenen Stadium für diese Zuwendungsformen sehr empfänglich.

Je stabiler und sicherer nun die Pflegenden auftreten und auch wirken, umso sicherer und geschützter empfinden sich die Demenzkranken. An folgenden Beispielen aus der Pflege soll diese beruhigende Kommunikation im Zusammenhang des „stadienbezogenen Anpassungsverhaltens“ verdeutlicht werden (Lind 2011).

Hervorgehoben wird an dieser Stelle, dass vor allem die Untersuchung der promovierten Sprachwissenschaftlerin Svenja Sachweh neue Impulse und Perspektiven erbrachten. Sie hat in einem Pflegeheim ca. 40 Stunden unmittelbare Kommunikation von Pflegenden und Demenzkranken bei der Morgenpflege per Tonbandgerät aufgezeichnet und anschließend ausgewertet (Sachweh 2000).

Die folgenden Beispiele aus der Praxis zeigen, wie empfänglich Demenzkranke auf die verschiedenen Vorgehensweisen der Stärkung ihrer Persönlichkeit reagieren.

Gespielte Dialoge

Wenn Demenzkranke auf die Ansprache von Pflegenden nicht reagieren, übernehmen die Pflegenden beide Gesprächsrollen. Sie spielen oder täuschen eine Kommunikation vor, die bei den Betroffenen wiederum Beruhigung und Geborgenheit hervorruft (Sachweh 2000: 94).

Ammensprache

Bei Anzeichen von Traurigkeit, Schmerz oder Frustration fallen Pflegende intuitiv in die Ammensprache, die von Müttern meist bei Säuglingen und Kleinstkindern verwendet wird (Sachweh 2000: 168, Sachweh 2002: 111 – siehe auch Blog 16).

Flüstern

Bei Erregung und Unruhe reagieren die Pflegenden mit leiser und ruhiger Ansprache, oft auch Flüstern in der Ammensprache (Sachweh 2002: 246). Diese beruhigende Wirkung des Flüsterns konnte auch von Wojnar beobachtet werden (Wojnar 2007: 91).

Ständige Wiederholungen

Pflegende stellen fest, dass sie sowohl die Pflegehandlungen als auch die begleitende Kommunikation im Sinne eines Rituals ständig wiederholen (Sachweh 2000: 120 – siehe auch Blog 3).

Schunkeln und Kraulen

Ebenso wird bei Unruhe und Erregung auf nonverbale Vorgehensweisen der Beruhigung wie Schunkeln und Hin-und Herwiegen seitens der Pflegenden zurückgegriffen (Sachweh 2008: 130). Oft werden auch die Schulter oder der Rücken gekrault.

Zustimmung erbeten

Beiläufig und als zustimmungserheischende Suggestivfrage formuliert sollten die Demenzkranken um ihr Einverständnis für Pflegehandlungen gebeten werden (Sachweh 2000: 105, Sachweh 2008: 172).

Loben

Bei unkonzentrierten unnruhigen Bewohnern beim Waschen und Ankleiden ist das Loben u. a. eine angemessene Vorgehensweise, um die äußerst begrenzte Aufmerksamkeit und das wenige Interesse an diesen Vorgängen zu wecken (Sachweh 2002: 246 – siehe auch Blog 17).

Komplimente

Ständig Komplimente machen bei allen Verrichtungen: Dieses Vorgehen zeigt den Betroffenen, dass sie noch einiges beherrschen. Egal ob es sich hierbei um das Waschen oder das Ankleiden handelt, Komplimente wirken fast immer. Auch Komplimente über das Äußere (Haut, Frisur, Kleidung u. a.) werden von den Demenzkranken aufmerksam registriert und führen zum Wohlbefinden der Angesprochenen (Bowlby Sifton 2007: 315, Lind 2007: 138 – siehe auch Blog 14).

„Krankenschwester-Wir“

Besonders bei Pflegehandlungen in den Intimbereichen benutzen Pflegende das „Krankenschwester-Wir“. Damit wollen sie ausdrücken, dass hier ein gemeinsames Vorgehen von Pflegenden und Bewohnern im Mittelpunkt steht und keine unkontrollierte Fremdeinwirkung (Sachweh 2000: 152).

Ergänzungen

Die Optimierung der Person-Umwelt-Passung im Sinne einer möglichst weitreichenden Anpassung und Angleichung (Kompatibilitätsprinzip) ist bereits in vielen Blogelementen mehrfach hervorgehoben worden. Zur Verdeutlichung werden hier nochmals einige Strategien angeführt:

  • Doppelstrategien (Blog 14)
  • Verstärkungsstrategien bei der Kontaktaufnahme (Blog 17)
  • Vorhersehbarkeit (Blog 28)
  • Positive Perspektiven (Blog 29)

Problemfeld

In Blog 20 und Blog 79 wird darauf verwiesen, dass seitens des Kitwood-Ansatzes u. a. Ammensprache, Puppen und Umarmungen als Gegebenheiten einer persönlichkeitsherabmindernden Infantilisierung betrachtet werden (Kitwood 2000: 75).

Diesbezüglich muss auf den Umstand hingewiesen werden, dass Infantilisieren u. a. ein bewusstes abwertendes Verkindlichen bedeutet. Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium hingegen kann man gemäß dieser Definition gar nicht verkindlichen, denn sie sind bereits krankhaft verkindlicht (Reisberg et al. 1999, siehe hierzu Blog 75). Es gilt hier nur, sich bei der Pflege und Betreuung an diesen geistigen Erfassungszustand zum Wohle der Betroffenen anzupassen.

Literatur

  • Helleberg, K. M. et al.(2014) ‘‘Like a Dance’’: Performing Good Care for Persons with Dementia Living in Institutions. Nursing Research and Practice. Volume 2014, Article ID 905972, 7 pages http://dx.doi.org/10.1155/2014/905972
  • Bowlby Sifton, C. (2007) Das Demenz-Buch. Ein „Wegbegleiter“ für Angehörige, Pflegende und Aktivierungstherapeuten. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen. Grundlagen, Strategien und Konzepte. Bern: Verlag Hans Huber 2007
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23
  • Sachweh, S. (2000) «Schätzle hinsitze!». Kommunikation in der Altenpflege (2., durchgesehene Auflage), Frankfurt am Main: Peter Lang
  • Sachweh, S. (2002) «Noch ein Löffelchen?». Effektive Kommunikation in der Altenpflege. Bern: Verlag Hans Huber
  • Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
  • Wojnar, J. (2007) Die Welt der Demenzkranken – Leben im Augenblick. Hannover: Vincentz Verlag

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

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