Der Abbauprozess der Alzheimer-Demenz (Teil 8) ist der Inhalt des 117. Blogs. Es werden kritische Einschätzungen des Modells der Retrogenese dargestellt.
Vorbemerkung
In den letzten Blogelementen ist wiederholt auf die stadienbezogenen Anpassungsstrategien eingegangen worden (Blog 113 und Folgende). Es bedarf aber in diesem Zusammenhang des Hinweises, dass das Stadienkonzept, hierbei vor allem das Konzept der Retrogenese, in den Fachkreisen noch nicht von allen als neurowissenschaftlicher Bezugsrahmen anerkannt wird. Obwohl dieses Modell neurowissenschaftlich und neurologisch empirisch belegt ist, wird es in vielen Publikationen als Grundlage für den neurodegenerativen Abbauprozess der Demenzen in Frage gestellt. Ergänzend finden die Erfahrungen der Pflegenden und Betreuenden in der praktischen Demenzpflege, die letztlich diesen Abbauprozess entgegengesetzt der Hirnreifung tagtäglich bei der Pflege und Betreuung erleben, in den Fachkreisen nicht angemessen Gehör. Dieser Umstand macht es erforderlich, an dieser Stelle nochmals die Problemfelder bezüglich der fehlenden Akzeptanz des Stadienmodells des Abbauprozesses aufzuzeigen.
Problemfelder des Stadienmodells der Retrogenese
In Blog 75 wird das Konzept der Retrogenese bezüglich des Abbauprozesses der Alzheimer-Demenz und anderer neurodegenerativer Demenzen und Erkrankungen aufgezeigt. Dieses Modell wurde von Barry Reisberg auf der Grundlage bereits bestehender Erkenntnisse über den krankhaften Hirnabbau entwickelt. Besonderen Einfluss hierbei hatte das Entwicklungskonzept der Hirnreifung des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget. Reisberg fügte die Resultate verschiedener krankhafter Veränderungsprozesse aus den folgenden Bereichen zu einem Konzept der Systematik des Abbauprozesses zusammen:
- geistiges Vermögen und Sprache
- Alltagsfertigkeiten (ADL)
- Physiologie und Neurologie (EEG, Hirnstoffwechsel, Reflexe)
- Neuropathologie und Neuroanatomie (u. a. Braak-Stadien: Braak et al. 1991).
Dieses Modell bezeichnet er als „Retrogenese“ (Rückentwicklung), denn das entscheidende Element dieses Ansatzes besteht in dem Faktum, dass der krankhafte Abbauprozess einer Rückentwicklung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Menschen entspricht (Reisberg et al. 1999, Reisberg et al. 2002, Reisberg et al. 2011, Rogers et al. 2006).
Im Folgenden werden einige Positionen und Sichtweisen verschiedener Vertreter überwiegend aus geisteswissenschaftlichen Bereichen besonders bezüglich der Distanz zu diesem Modell des Abbauprozesses dargestellt.
Humanistische Psychologie
In Blog 45 wird das Modell der „Personenzentrierten Pflege“ (Kitwood-Ansatz) beschrieben. Die Einstellung, dass es sich bei den Demenzen vorrangig nicht um Krankheiten, sondern eher um abweichende Alterserscheinungen handelt, wird auch von den Vertretern der „personenzentrierten Pflege“ geteilt. Hierbei nehmen vor allem die Veröffentlichungen von Tom Kitwood eine zentrale Position bei der Fundierung dieser Konzeption ein (Kitwood 2000, siehe Blog 77, Blog 78 und Blog 79). Grundlage und Bezugsrahmen der „personenzentrierten Pflege“ sind die Konzepte der so genannten „humanistischen Psychologie“, einer Weltanschauung und damit Ideologie, die nicht wissenschaftlich und damit empirisch im Sinne der Erkenntnisgewinnung ausgerichtet ist. Im Mittelpunkt dieser Denkrichtung stehen „Wachstum“ und „Selbstverwirklichung“ als zentrale Begriffe und Orientierungswerte, wobei vorrangig die geistige Weiterentwicklung („mental growth“) gemeint ist (Lind 2007: 23). Damit ist dieser Ansatz normativ, fordert er doch das ständige „Wachsen“ als Lebensperspektive ein. Mit dieser ideologisch-normativen Weltanschauung ergeben sich immense Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung neurodegenerativer Erkrankungen. Einschlägige Studien von Vertretern dieser Richtung zeigen anschaulich das Unvermögen, negative demenzspezifische Abbauprozesse als positive Entwicklungen gemäß einer positiven oder „humanistischen Psychologie“ darzustellen (Clarke et al. 2019).
Ethische und philosophische Positionen
In Blog 44 stehen u. a. die Vorstellung einer realen Autonomie bzw. Selbstbestimmung bei Demenzkranken im schweren Stadium im Zentrum. Die Vertreter dieser Position, die konträr zu den Annahmen der Stadienkonzeption ist, berufen sich dabei u. a. auch auf die Grundrechte, wenn sie die Forderung aufstellen: „Es ist erwogen worden, im späten Stadium der Erkrankung die Perspektive der Selbstbestimmung gegenüber der des Wohlergehens zurücktreten zu lassen. Ein solcher Schritt kann nicht umstandslos eingefordert werden, weil Selbstbestimmung ethisch unhintergehbar ist und ihre Aufhebung immer Einschränkungen der Grundrechte der betreffenden Person zur Folge hat.“ (Sturma 2018: 164). In diesem Zusammenhang wird von einem „paternalistischen Fehlschluss“ ausgegangen (Rieger 2018: 52). Des Weiteren wird auch die „Kultur der Überwachung und Einschränkung in den Pflegeeinrichtungen“ (Alarmanlagen u. a.) zum Schutze der Demenzkranken beklagt, die sich nicht mit dem Ansatz der „personenzentrierten Pflege“ vereinbaren ließen (Innes 2014: 89).
In Blog 45 werden ethische Aspekte dargestellt. Anhand der Ausführungen über die „Grundlagen einer Ethik der Demenz“ (Wetzstein 2005) wird exemplarisch erläutert, unter welchen Gesichtspunkten der Gegenstandsbereich Demenz in geisteswissenschaftlichen Arbeitsfeldern aufgearbeitet und bewertet wird. Die folgenden Faktoren treten hierbei besonders in den Vordergrund:
- Der wissenschaftliche Stand der Forschung wird relativiert, indem u. a. die „Pathologisierung“ der Demenz kritisch hinterfragt wird (Wetzstein 2005: 96f).
- Der neurodegenerative Rückentwicklungsprozess wird als eine „reduktionistische Personkonzeption“ einschließlich der damit verbundenen „Infantilisierung“ eingeschätzt (Wetzstein 2005: 162f).
Entsprechend dieser Sichtweise wird für Wetzstein aus der Krankheit Demenz das „Phänomen“ Demenz, das gegenwärtig zu Stigmatisierungsprozessen und damit zu einer „Entpersonalisierung dementen Menschen“ führt (Wetzstein 2005: 213f). Es wird diesbezüglich teils bezugnehmend auf das Konzept der „praktischen Ethik“ von Peter Singer (ein Euthanasieansatz) befürchtet, dass bei fortschreitender Demenz die Betroffenen immer weiter aus dem „Schutzkonzept der Menschenwürde“ herausfallen (Wetzstein 2005: 136f und 180).
Vertreter philosophischer und ethischer Überlegungen über Demenzen stellen nicht nur den stadienbezogenen Abbauprozess und den damit verbundenen kindheitsbezogenen Umgang (Infantilisierungsvorwurf) infrage. Sie gehen teilweise noch einen Schritt weiter, indem sie die These vertreten, dass „eine infantilisierende Umgebung und Behandlung tatsächlich Symptome der Demenz hervorrufen und den kognitiven Fortschritt des Niedergangs verstärken und beschleunigen…“ (Schweda et al. 2018).
Literatur
- Braak, H. et al. (1991) Neuropathological staging of Alzheimer-related changes. Acta Neuropathologica, 82: 239-259
- Clarke, C. et al. (Hrsg.) (2019) Positive Demenzpflege. Fähigkeitenorientierte Ansätze Positiver Psychologie für Menschen mit Demenz. Bern: Hogrefe Verlag
- Innes, A. (2014) Demenzforschung. Das Erleben und die Versorgung von Menschen mit Demenz erforschen. Bern: Verlag Hans Huber
- Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen. Grundlagen, Strategien und Konzepte. Bern: Verlag Hans Huber
- Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23
- Reisberg, B. et al. (2002) Evidence and mechanisms of retrogenesis in Alzheimer`s and other dementias: management and treatment import. American Journal of Alzheimer´s Disease and other Dementias, 17 (4): 202 – 212
- Reisberg, B. et al. (2011). Staging Dementia. In: Abou-Saleh, M. T. et al. (Hrsg.) Principles and Practice of Geriatric Psychiatry. Hoboken: John Wiley & Sons (3. Ed.) (162 – 169)
- Rieger, H.-M. (2018) Demenz als Testfall der Menschenwürde – auf der Suche nach einem leibgebundenen Verständnis von Person und Würde. In: Bonacker M. und G. Geiger (Hrsg.): Menschenrechte in der Pflege. Opladen: Verlag Barbara Budrich (49 – 86)
- Rogers, H. et al. (2006) Retrogenesis theory in Alzheimer’s disease: evidence and clinical implications. Anales Psychologica, 22 (2): 260-266
- Schweda, M. et al. (2018) ´Rückkehr in die Kindheit´ oder ´Tod bei lebendigem Leib´. Ethische Aspekte der Altersdemenz in der Perspektive des Lebenslaufs. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 5 (1): 181 – 206
- Sturma, D. (2018) Ethik und rechtliche Fragen. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (157 – 166)
- Wetzstein, V. (2005) Diagnose Alzheimer. Grundlagen einer Ethik der Demenz. Frankfurt: Campus Verlag
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.