Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 4)

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Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 4) sind der Inhalt des 122. Blogs. Es wird der Problembereich „Normalität“ als lebensgefährdender Ansatz dargestellt.

Vorbemerkung

Es darf kritisch angefragt werden, warum im Rahmen der Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege vermehrt Problembereiche in der Praxis und vor allem auch in der gedanklichen Erfassung angeführt werden. Fehlen doch dabei die positiven Aspekte, die es zu ermitteln und zu verallgemeinern gilt. Die hier aufgezeigten Problembereiche bilden den Bezugsrahmen und damit zugleich auch den Grund für das Vorhaben der Entwicklung eines theoretischen Konzepts. Diese Zugangsweise zum Gegenstandsbereich Demenzpflege in Form der Nennung der Problembereiche kann man als ein Ausschlussverfahren falscher und störender Faktoren bezeichnen, die gegenwärtig die Theorie und vor allem auch die Praxis der Demenzpflege leider immer noch bestimmen. Umgangssprachlich geht es hierbei um die Trennung von Spreu und Weizen (Lind 2007: 14). Gegenwärtig ist fast nur Spreu vorhanden, wie die Problembereiche zeigen. Nur halten leider viele im Umfeld der Demenzpflege diese Spreu (u. a. Kitwood-Ansatz und Validaton) für Weizen. Und sie können sich auch nicht erklären, warum es mit diesen Vorgehensweisen einfach nicht funktioniert, warum immer noch z. B. die Pflegeverweigerung und die Pflegeerschwernis den Alltag in der körperlichen Pflege beeinträchtigen.

Damit der Zusammenhang zwischen der Darstellung der Problembereiche und der Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege offensichtlich werden kann, werden im Folgenden die Faktoren explizit genannt, die in der Demenzpflege nicht gegeben sein sollten.

Problembereich 5 – das Normalitätsprinzip

In Blog 44 wird ausgeführt, dass vor allem von Vertretern der „personenzentrierten Pflege“ die Einstellung vertreten wird, dass Demenzkranken auch das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung zusteht. Erklären lässt sich diese Denkweise mit der Grundannahme, dass es sich bei der Demenz letztlich nicht um eine Erkrankung, sondern um eine besondere Form des Alterungsprozesses handelt. Dementsprechend gilt für diese Personengruppe somit auch vorrangig das Normalitätsprinzip für das alltägliche Leben. Bezogen auf eventuelle Risiken wird dann wie folgt argumentiert: „Doch das Leben ist nun einmal ein riskantes Unterfangen. Deshalb vertritt der Autor die Ansicht, dass es unethisch ist, im tagtäglichen Leben jemanden davon abzuhalten, für sich selbst akzeptable Risiken einzugehen, wenn wir die Demenz dieser Person als Rechtfertigung hierfür heranziehen.“(Chalfont 2010: 71). Auch Loveday vertritt diese Position: „Risiken gehören zum Leben, auch zum Leben von Menschen mit Demenz. (…) Wenn sie daran gehindert werden, etwas zu tun, was sie tun möchten, wird sich ihre Lebensqualität vermutlich verschlechtern.“ (Loveday 2015: 137). Welche Konsequenzen diese Denkweise u. a. haben kann, wird an anderer Stelle thematisiert: „Wäre es nicht auch für uns Jüngere ein tröstlicher Gedanke, Freiheit im Alter leben zu dürfen, auch wenn das im schlimmsten Fall bedeutet, daß die verbleibende Lebenszeit beispielsweise durch einen Unfall verkürzt wird?“(Wasner 2000: 65).

Dieser Sichtweise entsprechend wird in Blog 45 ausgeführt, dass Demenzkranke strikt gemäß ihrem Willen auf der Grundlage des Autonomiegebots bzw. des Rechts auf Selbstbestimmung zu behandeln sind. Diese Richtschnur schließt ein, das Gebot der Gewährleistung der Unversehrtheit zugunsten des Rechts auf Selbstbestimmung und damit zugleich Freizügigkeit nachgeordnet einzuschätzen. Diese Position wird in Fachkreisen jedoch kontrovers betrachtet, wenn diesbezüglich die Überdehnung des Autonomiebegriffes bei Kindern und Demenzkranken als ethisch nicht tragbar eingeschätzt wird (Jox 2013). Des Weiteren wird bei dieser Vorstellung einer Autonomie für Demenzkranke das Grundrecht auf Unversehrtheit (GG) negiert, so dass der Vorwurf einer verfassungswidrigen Sichtweise erhoben werden kann. Als zusätzliches Faktum lässt sich in diesem Zusammenhang der Tatbestand anführen, dass bei dieser Autonomiekonzeption keinerlei Bezug auf die bestehenden Sicherungs- und Schutzregelungen (Bürgerliches Gesetzbuch, Betreuungsrecht u. a.) für die hilfe- und schutzbedürftigen Personen genommen wird.

Das Konzept der demenzspezifischen Normalität

In diesem Kontext wurde als Alternative das Konzept einer demenzspezifischen Normalität entwickelt (Lind 2007: 208f). Es besagt, dass Normalität auch bei Demenzkranken in allen Lebensvollzügen eine wichtige Bedeutung besitzt. Denn je vertrauter das räumliche und soziale Milieu den Betroffenen ist, umso besser ist die Person-Umwelt-Passung. In den Konzepten der Neubiografie (Blog 108) und der Altbiografie (Blog 109) findet der Ansatz der demenzspezifischen Normalität den entsprechenden strukturellen und organisatorischen Rahmen.

Das Konzept der demenzspezifischen Normalität beruht auf der Annahme, dass die körperliche und seelische Unversehrtheit in allen Gegebenheiten des Handelns und der Milieugegebenheiten strikt als Leitkonzept zu berücksichtigen ist. Dieser Sachverhalt erfordert eine umfassende Milieusicherheit.

In Blog 61 wird diese Milieusicherheit eingehend dargestellt. So ist die Selbstgefährdung bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium aufgrund von Empfindungsstörungen (fehlende und falsche Körperwahrnehmung, siehe Blog 7), illusionärer Selbstwahrnehmung (fehlende Krankheitseinsicht) und Wahrnehmungsstörungen (u. a. Unterscheidungsunfähigkeit, siehe Blog 1) recht stark ausgeprägt. Es drohen Stürze, Vergiftungen und beim unbeaufsichtigten Verlassen der Einrichtung tödliche Unfälle (siehe Blog 44). Um die körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten und um der Aufsichts- und Fürsorgepflicht nachkommen zu können, sollte daher jeder demenzspezifische Wohnbereich „beschützend oder geschlossen“ geführt werden (Lind 2007: 221).

Ein weiterer Faktor zur Gewährleistung der Unversehrtheit besteht aus dem Beobachten der Bewohner und damit zugleich aus der räumlichen Nähe. In Blog 60 wird dieser Tatbestand anhand des Konzepts des Präsenzmilieus beschrieben. Das Präsenzmilieu basiert auf dem Konzept einer Verstetigung räumlicher Nähe durch möglichst weitgehende Überschneidung von Gemeinschaftsflächen mit den Arbeitsbereichen der Mitarbeiter. Das heißt, die Arbeitsfelder liegen in den Wohnbereichen oder grenzen direkt daran an. So kann ein Präsenzmilieu geschaffen werden, das auf dem Prinzip „bewohnerferne Tätigkeiten bewohnernah ausführen“ beruht (Lind 2011: 143). Durch dieses Prinzip gelangt Lebendigkeit in das Wohnmilieu. Bewohner können ihre vertrauten Bezugspersonen beobachten und sind dadurch zugleich beruhigt und psychosozial eingebunden.

Literatur

  • Chalfont, G. (2014) Naturgestützte Therapie. Bern: Verlag Hans Huber
  • Jox, R. (2013) Der „natürliche Wille“ bei Kindern und Demenzkranken: Kritik an einer Aufdehnung des Autonomiebegriffs. In: Wiesemann, C. et al. (Hrsg.) Patientenautonomie: theoretische Grundlagen – praktische Anwendungen. Münster: Mentis (329 – 339)
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Loveday, B. (2015) Demenzteams führen und leiten. Bern: Verlag Hans Huber
  • Wasner, E. (2000) „Mensch, werde wesentlich.“ Zeichen im Sand der Gedanken. In: Gutensohn, S. Endstation Alzheimer?: Ein überzeugendes Konzept zur stationären Betreuung. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag (55 – 67)

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