Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 5)

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Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 5) sind der Inhalt des 123. Blogs. Es wird der Problembereich Krankheitsverlauf dargestellt.

Vorbemerkung

In Blog 122 wird gezeigt, dass der Kitwood-Ansatz der Demenz keinen Krankheitszustand zubilligt. Dementsprechend gilt dann auch das „Normalitätsprinzip“ mitsamt den damit verbundenen Risiken und Unabwägbarkeiten des alltäglichen Lebens. Aufgrund dieser Einstellung besteht dann auch kein Anspruch auf die Gewährleistung der körperlichen und seelischen Unversehrtheit. Tödliche Unfälle aufgrund einer selbstbestimmten Lebensführung werden dann billigend in Kauf genommen (Wasner 2000: 65).

Wenn nun gemäß Kitwood die Demenz keine Erkrankung ist, sondern nur eine besondere Form der Hirnalterung, dann existiert konsequenterweise auch kein Krankheitsverlauf mit seinen speziellen Aspekten. Dieses Problem der Ablehnung bzw. Nichtanerkennung eines neurodegenerativen Abbauprozesses wird im Folgenden thematisiert.

Problembereich 6 – Ablehnung des Krankheitsverlaufs der Demenz

In Blog 77 wird die Position Kitwoods bezüglich der Demenz als bloße Hirnalterung dargestellt. Kitwood kam zu dieser Einschätzung, da bereits vor einigen Jahrzehnten in mehreren Untersuchungen ermittelt wurde, dass neurodegenerative Abbauprozesse auch bei Nichtdemenzkranken obduziert wurden. Diese Abweichung veranlasste ihn zu der Sichtweise, der Demenz den Status einer „klassischen Krankheit“ abzuerkennen. Bestärkt wurde er diesbezüglich zusätzlich von dem konträren Faktum, dass bei Patienten mit den demenztypischen Symptomen nach dem Tod keine pathologischen Hirnveränderungen festgestellt wurden (Kitwood 2000: 47f). Kitwood folgert aus diesen Sachverhalten das Auflösen des herkömmlichen Paradigmas des Standardmodells (Neuropathologie), die er als „neuropathische Ideologie“ bezeichnet (Kitwood 2000: 60ff). Er hat sich auch mit Krankheitsverlauf gemäß der Stadienkonzeption und den Reisbergskalen auseinandergesetzt. Die Konzeption des Abbaus gemäß dem Stadienkonzept lehnt er aus folgenden Gründen ab:

  • Das Stadienkonzept des Abbaus basiert auf einem „simplen neurologischen Determinismus“ und berücksichtigt nicht angemessen die Sozialpsychologie (Kitwood 2000: 43)
  • Das Stadienkonzept thematisiert den geistigen Verfall, während die „neue Kultur“ die „Einzigartigkeit“ jeder Person in den Mittelpunkt stellt (Kitwood 2000: 191)
  • Stadienkonzepte betonen die Unvermeidlichkeit einer „globalen Verschlechterung“ (Kitwood 2000: 201).

Aus der Perspektive einer Entpathologisierung der Demenz, so wie sie von Kitwood vertreten wird, darf es keinen Abbau und auch keine Verschlechterungen wie in dem Stadienkonzept geben. Andernfalls könnte er seine These von der Demenz als einer nichtpathologischen Hirnalterung nicht aufrechterhalten.

Krankheitsverlauf

In Blog 78 wird gezeigt, dass Demenzen gemäß ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) wie folgt klassifiziert werden:

  1. Störungen des Gedächtnisses: Aufnahme und Wiedergabe neuerer Informationen – Verlust früher erlernter und vertrauter Inhalte.
  2. Störungen des Denkvermögens: Störung der Fähigkeit zu vernünftigen Urteilen – Verminderung des Ideenflusses – Beeinträchtigung der Informationsverarbeitung.
  3. Störungen der emotionalen Kontrolle – Störung des Sozialverhaltens – Störung der Motivation.

Die Störungen von 1. und 2. müssen schwer genug sein, um eine wesentliche Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen Lebens nach sich zu ziehen. Mindestens 6 Monate sollten diese Symptome bereits vorliegen. Darüber hinaus darf keine Bewusstseinsstörung bestehen (Gutzmann et al. 2005).

Ein weiteres klinisches Kriterium für die Demenz ist der Verlauf der Erkrankung, die fortlaufende Verschlechterung (Gutzmann et al. 2005: 41). Dieser Aspekt eines fortschreitenden Abbauprozesses bei der Demenz wird von Kitwood nicht erwähnt. Andernfalls könnte er die Ablehnung der Stadienkonzepte der Demenzen aufgrund der Unvermeidlichkeit einer „globalen Verschlechterung“ nicht aufrechterhalten (Kitwood 2000: 201).

Der neurodegenerative Abbauprozess

In Blog 75 wird angeführt, dass der Abbau der Nervenzellen zu einem Verlust verschiedener Fähigkeiten des menschlichen Lebens führt. So geht u. a. das Leistungsvermögen in folgenden Bereichen verloren: im kognitiven Bereich z. B. das Kurzzeitgedächtnis, die Orientierung, die Aufmerksamkeit und später schrittweise das Sprachvermögen (Aphasie), im motorischen Bereich die Mobilität (Immobilität) und das Handlungsvermögen (Apraxie), im körperlich physiologischen Bereich die Beherrschung der Schließmuskel (Inkontinenz) und später das Verdauen (Kachexie), das Schmerzempfinden und das Schlucken. Erklärt wird dieser Verlust mit dem kontinuierlich fortschreitenden Abbau der entsprechenden Hirnareale nach einem bestimmten Programm, das der Hirnreifung entgegengesetzt ist (Retrogenese). Schritt für Schritt sterben Nervenzellenbereiche und jedes Mal wird dabei der entsprechende körperliche Funktionsbereich regelrecht abgeschaltet (Kausalzusammenhang von Hirn und Verhalten). Im Folgenden wird diese Rückentwicklung anhand der Konzeption der Retrogenese kurz erläutert.

Das Konzept der Retrogenese

Ebenfalls in Blog 75 wird thematisiert, wie der Neurologe und Psychiater Barry Reisberg bei der Alzheimer-Demenz die Resultate verschiedener krankhafter Veränderungsprozesse aus den folgenden Bereichen zu einem Konzept der Systematik des Abbauprozesses zusammengefügt hat:

  • geistiges Vermögen und Sprache
  • Alltagsfertigkeiten (ADL)
  • Physiologie und Neurologie (EEG, Hirnstoffwechsel, Reflexe)
  • Neuropathologie und Neuroanatomie (u. a. Braak-Stadien: Braak et al. 1991).

Dieses Modell bezeichnet er als „Retrogenese“ (Rückentwicklung), denn das entscheidende Element dieses Ansatzes besteht in dem Faktum, dass der krankhafte Abbauprozess einer Rückentwicklung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Menschen entspricht (Reisberg et al. 1999, Rogers et al. 2006). David Shenk bezeichnet die Retrogenese „zurück zur Geburt“ (Shenk 2005: 138).

Neuroanatomisch und neuropathologisch kann diese „rückläufige Entwicklung“ so erklärt werden, dass die Nervenzellen, die in der Humanentwicklung zuletzt funktionsfähig und damit ausgereift sind (Bildung einer Isolationsschicht bei den Nervenfasern – Myelinisierung), als Erstes von dem krankhaften Zellsterben in Mitleidenschaft gezogen werden. Dieser Rückentwicklungsprozess der Alzheimer-Demenz wurde von Reisberg in sieben Phasen untergliedert. Die so genannten Reisberg-Skalen (die „Global Deterioration Scale“ (GDS) und die „Functional Assessment Staging“ (FAST)) bilden diese Entwicklung „zurück zur Geburt“ in einzelnen Schritten genau ab (Ivemeyer et al. 2006: 145). Während die GDS die geistigen Leistungseinbußen beschreiben, werden im FAST die alltagspraktischen Kompetenzverluste (so genannte ADL) ebenfalls siebenphasig Schritt für Schritt aufgeführt. Die Phasen 6 und 7 für das schwere und das schwerste Stadium des Abbauprozesses sind jeweils nochmals in 5 bzw. 6 Teilphasen gegliedert (Lind 2011: 38f).

Da die bisherigen Blogelemente überwiegend auf die Demenzkranken im schweren Stadium ausgerichtet sind (Stadium 6 der Reisberg-Skalen) wird hier eine kurze Zusammenfassung bezüglich des Entwicklungs- bzw. Rückentwicklungsstadium angeführt: „Ein Patient im Stadium 6 entspräche demnach einem Kind im Alter zwischen 2 und 5 Jahren. In dieser Zeit erwirbt ein Kind die Fähigkeit, seine Ausscheidungen zu kontrollieren, und selbständig die Toilette zu benutzen, sich zu waschen und anzuziehen. Ein Kind in diesem Alter kann nicht selbständig leben, es braucht den Schutz und die Unterstützung der Erwachsenen.“ (Boetsch et al. 2003: 78).

Diskonnektion (Entkoppelung)

In Blog 81 wird gezeigt, dass der hirnpathologische Abbau im fortgeschrittenen Stadium der Demenz zusätzlich zu verschiedenen kognitiven Fehl- und Minderleistungen führt, die man teils als krankhafte Entflechtungen oder Entkoppelungen (Diskonnektionen) bezeichnen kann. Wenn z. B. bei zeitlichen, örtlichen und situativen Desorientierungsphänomenen eine Erinnerung für einen konkreten Realbezug gehalten wird, dann sind meist starke psychische Belastungen die Folge. Oder wenn ein Alltagsgegenstand physiologisch eindeutig gesehen, jedoch in seiner Funktion nicht mehr erkannt werden kann (assoziative visuelle Agnosie), dann wird die konkrete Umwelt fremd und verunsichert die Betroffenen (siehe Blog 1 und Blog 2). Aber auch Fehlwahrnehmungen, Halluzinationen, die Unfähigkeit Dinge zu unterscheiden und vieles mehr sind Symptome eines zunehmenden Auflösungsprozesses der Person-Umwelt-Passung aufgrund pathologischer Entkoppelungsprozesse.

Literatur

  • Boetsch, T. et al. (2003) Klinisches Bild, Verlauf und Prognose (mit Fallbeispielen). In: Hampel. H.; Padberg, F. & Möller, H.-J. (Hrsg.): Alzheimer-Demenz (73-98). Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft
  • Braak, H. et al. (1991) Neuropathological staging of Alzheimer-related changes. Acta Neuropathologica, 82: 239-259
  • Gutzmann, H. et al. (2005) Demenzielle Erkrankungen. Medizinische und psychosoziale Interventionen. Stuttgart: Kohlhammer Verlag
  • Ivemeyer, D. et al. (2006) Demenztests in der Praxis. Ein Wegweiser. München: Urban & Fischer
  • Kitwood, T. (2000) Demenz. Der personenzentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23
  • Rogers, H. et al. (2006) Retrogenesis theory in Alzheimer’s disease: evidence and clinical implications. Anales Psychologica, 22 (2): 260-266
  • Shenk, D. (2005) Das Vergessen. Alzheimer: Porträt einer Epidemie. Leipzig: Europa Verlag
  • Wasner, E. (2000) „Mensch, werde wesentlich.“ Zeichen im Sand der Gedanken. In: Gutensohn, S. Endstation Alzheimer?: Ein überzeugendes Konzept zur stationären Betreuung. Frankfurt am Main: Mabuse Verlag (55 – 67)

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