Vorarbeiten für die Entwicklung einer Theorie der Demenzpflege (Teil 6) sind der Inhalt des 124. Blogs. Es wird der Problembereich Psychiatrie dargestellt.
Vorbemerkung
Es kann davon ausgegangen werden, dass das Wissen über Demenzen gegenwärtig noch recht begrenzt ist, wie es die bisherigen Problembereiche (siehe Blog 121, Blog 122 und Blog 123) zeigen. So vermag z. B. eine normativ-ideologische Sichtweise (die „humanistische Psychologie“ mit dem Kernelement Kitwood-Ansatz) die Demenz einfach in eine bloße besondere Hirnalterung umzubenennen, mit all den damit verbundenen Konsequenzen für die Pflege und Versorgung.
In diesem Blog wird gezeigt, dass aufgrund unzureichender Wissensstände Demenz von vielen Autoren falsch eingeordnet wird. Aus einer genuin neurologischen Erkrankung wird dann u. a. ein vorwiegend psychiatrisches Syndrom. Auch diese Fehlklassifizierung führt zu deutlichen Fehlinterpretationen und Fehlhandlungen in der Pflege und Betreuung, wie im Folgenden gezeigt wird.
Problembereich 7 – Psychiatrie
Bei Demenzen handelt es sich überwiegend um neurologische Erkrankungen des Gehirns. Es sind somit keine psychiatrischen Erkrankungen im engeren Sinne, obwohl sie im fortgeschrittenen Stadium eine Reihe psychiatrischer Symptome wie Wahn und Halluzinationen zeigen. Wahnhafte Verkennungen unterscheiden sich von Wahnvorstellungen psychotisch und damit zugleich psychiatrischer Kranker wie z. B. Schizophrene qualitativ, denn sie haben letztlich unterschiedliche physiopathologische Ursachen. So handelt es sich z. B. bei der Alzheimer-Demenz um eine neurodegenerative Demenz, die als eine sekundäre Tauopathie klassifiziert wird (Tacik 2018: 74). Das krankhaft veränderte Tau-Protein in den Nervenzellen zeigt sich in Gestalt neurofibrillärer Bündel (engl. neurofibrillary tangles) als Reste von bereits abgestorbenen Nervenzellen, die sich nicht mehr abbauen lassen.
Die Parallele Kleinkind beim Wahnerleben
Dass z. B. das Wahnerleben bei Demenzkranken eine nichtpsychiatrische Ursache besitzt, lässt sich mit dem Wahnverhalten von Kleinkindern belegen. So wird in Blog 9 gezeigt, dass Demenzkranke ähnlich wie Kleinkinder ihre Furcht und Angst regelrecht visualisieren. Ein Beispiel:
Eine Demenzkranke sitzt vor Angst erstarrt in ihrem Bett und flüstert völlig verängstigt der hereinkommenden Pflegenden zu, dass Murmeltiere unter ihrem Bett wären, die sie fressen wollten. Die Pflegende öffnet daraufhin die Balkontür, greift sich einen Besen und scheucht die „Murmeltiere“ auf den Balkon und schließt anschließend demonstrativ die Balkontür. Die Bewohnerin ist sichtlich erleichtert. (Lind 2011: 212)
Belegen lässt sich diese Annahme mit einer Parallele zu kleinkindlichen Verhaltensweisen. Es wird nämlich oft beobachtet, dass Kleinkinder beim Einschlafen allein im Dunkeln ebenfalls Halluzinationen (Gespenster, Monster etc.) entwickeln. Die eintretenden Mütter, denen diese Trugbilder geschildert werden, verhalten sich dann spontan wie die Pflegende im obigen Beispiel: sie öffnen das Fenster und scheuchen die Monster hinaus. Im Winter hingegen wird oft eine Schranktür geöffnet, um das Gespenst einzuschließen.
Die Ähnlichkeit in der Symptomatik und auch in der Behebung dieses Belastungselementes lässt die Verallgemeinerung zu, dass sowohl Kleinkinder wie auch Demenzkranke ihre Furcht in Gestalt von Halluzinationen regelrecht visualisieren. Furcht und Angst wird demnach aufgrund der noch unausgereiften Hirnstrukturen bei Kleinkindern bzw. des hirnpathologischen Abbaus bei Demenzkranken in Gestalt von Trugbildern veräußerlicht. Somit sind dann nicht psychotische Prozesse, sondern letztlich die Unvollständigkeit des Hirns die Ursache für wahnhafte Halluzinationen.
Der „Wahn-Schalter“
In Blog 19 wird gezeigt, dass bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium recht leicht bei Gegebenheiten von Furcht und auch Überforderung mit wahnhaftem Verhalten reagiert wird, wie das folgende Beispiel zeigt:
Eine Pflegende bemerkte zufällig, dass bei einer im Rollstuhl sitzenden demenzkranken Bewohnerin die Schnürsenkel nicht geschnürt waren. Spontan bückte sie sich und machte sich daran, die Schnürsenkel zu verknoten. In diesem Moment erhielt sie von der Bewohnerin Schläge auf den Kopf und auf die Schulter (Lind 2007: 158, Lind 2011: 74).
In dieser Situation geriet die Bewohnerin in Panik und Furcht, denn sie konnte sich diese Handlung nicht erklären und vermutete demnach bereits Gefahren (Diebstahl der Schuhe oder ähnliches). In diesem Beispiel wird reflexartig der „Wahn-Schalter“ aktiviert mit der Folge eines tätlichen Angriffs. Auch dieses Verhalten lässt sich mit der Annahme der Unvollständigkeit des Hirns aufgrund des Abbaus erklären. Es kann somit die These aufgestellt werden, dass bei Demenzkranken der „Wahn-Schalter“ infolge der abbaubedingten Minder- und Fehlleistungen bestimmter Hirnareale (u. a. Regulierungsmechanismen im Frontallappen) viel eher zum Einsatz gelangt als bei Nichtdemenzkranken.
Psychiatrische Erklärungsansätze
Den Fehler, Krankheitssymptome der Demenz im fortgeschrittenen Stadium mittels psychiatrischer Krankheitsmuster zu erklären, ist oft anzutreffen. Meist sind Ähnlichkeiten im Phänotypus der Krankheitssymptome die Ursache für diese falschen Erklärungsweisen, wie im Folgenden anhand von zwei Beispielen erläutert wird.
Christoph Held erklärt in seinem Buch „Was ist „gute“ Demenzpflege?“ stadienbezogene Minderleistungen in der Alltagsbewältigung aufgrund des neurodegenerativen Abbauprozesses wie z. B. das Ankleiden und Waschen, das Essen und Trinken, Unruhe und Furcht und auch Ausscheidungen mit der Begrifflichkeit der Dissoziation (Auseinanderfallen oder Abspaltungen verschiedener Funktionsbereiche im Rahmen psychiatrischer Erkrankungen wie Z. B. bei Schizophrenien und schweren Persönlichkeitsstörungen) (Held 2013). Bei neurodegenerativen Demenzen tritt jedoch keine Abspaltung auf sondern das kontinuierliche Absterben von Nervenzellen.
Sabine Tschainer-Zangl begeht in ihrem Buch „Demenz ohne Stress“ (Tschainer-Zangl 2019) denselben Fehler, indem sie psychiatrische mit demenztypischen Symptomen verwechselt:
- Wahn und Halluzinationen mit „Flashbacks“
- „Weglaufgefährdung“ und „aggressives Verhalten“ mit Vermeidung bestimmter Orte und Situationen
- den allgemeinen Gedächtnisverlust mit „Vergessen von Teilen der Biografie (Amnesie)“. In einem traumatischen Zustand wären dann die Demenzkranken nicht mehr in der Lage, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterscheiden
Ähnlich wie bei Held werden somit neurologische mit psychiatrischen Symptomen verwechselt (siehe Schnider 2012, Schnider 2017, Blog 8 und Blog 9).
Psychiatrische Pflege anstelle Demenzpflege
Auch im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker im fortgeschrittenen Stadium herrscht Verwirrung bezüglich des Umgangs mit dem wahnhaften Verhalten. Die psychiatrische Pflege wird dabei mit der Demenzpflege als Bezugs- und Orientierungsrahmen verwechselt. So wird z. B. in den „Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe“ (Bartholomeyczik et al. 2006) strikt Bezug auf den Ansatz der psychiatrischen Pflege genommen (Sauter et a. 2004). Gemäß der psychiatrischen Pflege sollte man z. B. nicht auf das Wahnerleben der Betroffenen eingehen, denn die Strategien des Mitgehens und Mitmachens werden u. a. aus „ethischen Gründen“ abgelehnt. Anstelle dessen werden verbale Beeinflussungsformen empfohlen. Dass diese Vorgehensweisen bei Demenzkranken im Rahmen der Behandlung einer wahnhaften Halluzination keine Wirkung zeigen, ist in Blog 45 anhand eines fiktiven Beispiels anschaulich demonstriert worden.
Literatur
- Bartholomeyczik, S. et al. (2006) Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe . Herausgeber: Bundesministerium für Gesundheit
- Held, C. (2013) Was ist „gute“ Demenzpflege? Demenz als dissoziatives Erleben. Bern: Verlag Hans Huber
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Sauter, D. et al. (2004) Lehrbuch Psychiatrische Pflege. Bern: Verlag Hans Huber
- Schnider, A. (2012) Konfabulationen und Realitätsfilter. In: Karnath, H.-O. und Thier, P. (Hrsg.) Kognitive Neurowissenschaften, Berlin: Springer (567 – 572)
- Schnider, A. (2017)The Confabulating Mind: How Brain Creates Reality. Oxford: Oxford University Press (2. Auflage)
- Tacik, P. (2018) Molekulare Mechanismen der Tau-Pathologie. In: Jessen, F. (Hrsg.) Handbuch Alzheimer-Krankheit. Berlin: Walter de Gruyter (64-79)
- Tschainer-Zangl, S. (2019) Demenz ohne Stress. Weinheim und Basel: Beltz Juventa
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.
Lieber Sven,
Danke für den Blog, wie erwähnt, kann ich mich nur als Betroffener – meine Mutter war erkrankt und ist vor 7 Jahren verstorben – einlassen. Die Unterscheidung zwischen psychiatrischer und neurologischer Kausalität kann ich insbesondere nachvollziehen, wenn hier unterschiedliche Handlungsempfehlungen für das Pflegepersonal abgeleitet werden. Wenn der Wahn manifest ist, nützt es natürlich nicht, wenn man dagegen arbeitet. Dein Beispiel in diesem Blog zeigt es. Neurologisch wäre es vielleicht interessant, wie es sich mit der Interdependenz zwischen abbaubedingter Furcht und der spezifischen Wahnvorstellung verhält. Gibt es differenzierende kausale Zusammenhänge? Gruß Thomas ( Nebenbei, der Satz „Im Winter hingegen wird oft eine Schranktür geöffnet, um das Gespenst einzuschließen, „ ist mißverständlich formuliert. )