Die Demenzverkindlichung (8) ist der Inhalt des 134. Blogs. Es werden die Faktoren Neubiografie und Tagesstrukturierung erläutert.
Vormerkung
Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium und Kleinkinder haben das bewusste und unbewusste Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit. Sie brauchen das Empfinden, vielleicht nicht immer aber bestimmt recht oft, behütet zu sein in einer vertrauten Umgebung mit vertrauten Personen. Denn Demenzkranke und Kleinkinder besitzen nicht mehr bzw. noch nicht das kognitive Vermögen, neue Reizgefüge situationsgemäß zu verarbeiten. Beide Personengruppen benötigen somit eine Lebenswelt oder auch ein Milieu, das auf vertrauten Reizen beruht. Bei Demenzkranken ist dieses Vertrautheitsprinzip regelrecht eine Notwendigkeit oder eine Pflicht, denn die Wahrnehmungsstörung Verallgemeinerungsunfähigkeit lässt keine anderen Umweltgegebenheiten zu. Kleinkinder und Demenzkranken benötigen somit ein Umfeld, das auf ständigen Wiederholungen allen Geschehens beruht. Stetigkeit, Konditionierung und Ritualisierung sind die Kernelemente dieses Umweltgefüges. Für Demenzkranke wird in dem Biografiekonzept Neubiografie dieser Sachverhalt dargestellt.
Neubiografie
Wie in Blog 91 angeführt, geht es bei der Neubiografie darum, durch ständige Konditionierung und Ritualisierung erst eine Biografie in der Gegenwart aufzubauen. Die Gestaltung und damit der Aufbau einer Neubiografie ist somit ähnlich wie der Bezug auf die Biografie vor der Erkrankung ein Kernelement der Demenzpflege und Demenzbetreuung. Wie in Blog 90 bereits angeführt, gilt es bei der Neubiografie, die vielschichtige Umwelt bei den Demenzkranken zu verinnerlichen. Die Außenwelt in Gestalt aller Reizgefüge gilt es Schritt für Schritt zu Elementen der Innen- oder Binnenwelt zu konfigurieren. Neurophysiologisch geschieht dies durch Abspeicherung und Konsolidierung dieser Gedächtnisspuren (Engramme) in den entsprechenden Hirnarealen. Wenn es gelungen ist, alle wesentlichen Impulse und damit Reizgefüge zu Langzeitgedächtnisinhalten werden zu lassen, dann sind Außenwelt und Innenwelt angemessen miteinander verknüpft.
In diesem Fall ist dann auch der Zustand der Vorhersehbarkeit des wesentlichen Geschehens im unmittelbaren Umfeld erreicht worden (siehe Blog 28). Und mit dieser Gegebenheit der Vertrautheit mit den Reizgefügen der Außenwelt ist der wesentliche Versorgungsauftrag bezogen auf die Vermeidung von Furcht und Unruhe erfüllt. In Blog 3 und Blog 26 sind die Kernelemente des Vorgehens zwecks Erstellung einer Neubiografie angeführt:
- Personale Stetigkeit: Vertrautheit mit den Mitarbeitern (Bezugs- oder Gruppenpflege) und mit deren Unveränderlichkeit ihres Äußeren (u. a. Frisur, Kleidung).
- Handlungsstetigkeit bei der Pflege und Betreuung und Stetigkeit in der Tagesstruktur: Ritualisierung allen Geschehens.
- Milieustetigkeit: Unveränderlichkeit der räumlichen Umwelt.
In Blog 28 wird angeführt, dass durch die Ritualisierung im Sinne der Schaffung einer Neubiografie das Zusammenarbeiten von Mitarbeitern und Demenzkranken deutlich verbessert werden kann, wie einschlägige Untersuchungen belegen (Sachweh 2008: 227). Ebenso haben Studien gezeigt, dass bei Abweichungen von vertrauten Handlungsroutinen die Demenzkranken verunsichert und verstört reagieren (Skovdahl et al. 2003).
Die Gestaltung der Neubiografie mittels Konditionierung und Ritualisierung bedeutet somit zugleich Eingewöhnung in den Heimalltag, vertraut werden mit den sozialen und räumlichen Gegebenheiten, die für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium lebensnotwendig sind. Andernfalls droht frühzeitiger Tod durch permanenten Überstress (Fremdheitssyndrom: u. a. „exceeded disabilities“ und Schockstarre, siehe Blog 91).
Anhand der demenzspezifischen Interventionsform Tagesstrukturierung wird das Demenzpflegekonzept Neubiografie im Folgenden erläutert.
Tagesstrukturierung
In Blog 25 wird darauf hingewiesen, dass die durch die Hirnleistungseinbußen hervorgerufenen Orientierungsstörungen bezüglich Raum, Zeit, Personen und Situationen eine für die Demenzkranken sinnvolle und befriedigende Eigenbeschäftigung und Gestaltung der zur Verfügung stehenden Zeit erschweren. Eine gezielte und eigenständige Stimulierung und Aktivierung kann aufgrund der verminderten geistigen Kapazitäten, vor allem der Kurzzeitgedächtnisstörungen, nur schwerlich gelingen. Zeit und Raum können daher häufig nicht angemessen genutzt oder gestaltet werden. Sie werden oft zu diffusen Belastungen oder gar Bedrohungen (Lind 2007).
Die Demenzverkindlichung zeigt sich in diesem Zusammenhang, dass die Demenzkranken ein Tagesprogramm, eine Struktur oder ein Gerüst an Anregungs- und Beruhigungsangeboten für das tägliche Leben benötigen. Konkret bedeutet dies, dass der Demenzkranke im Milieu des Wohnbereiches nicht allein gelassen werden sollte. Es sollten ihm Möglichkeiten zur Beschäftigung und Teilnahme an die Hand gegeben werden, die im Wesentlichen darauf abzielen, Phasen der Über- aber auch Unterstimulierung zu vermeiden.
In Blog 24 wird gezeigt, dass der Ausfall oder Verzicht von vertrauten Betreuungsangeboten im Rahmen der Tagesstrukturierung oft zu demenzspezifischen Verhaltensweisen der Überforderung und Belastung führt. Folgende Verhaltensweisen sind u. a. beim Ausfall von Betreuungsangeboten in den Zwischenphasen beobachtet worden (siehe Cohen-Mansfield et al. 1992, Cohen-Mansfield et al. 1995):
- verstärkte Unruhe, Verunsicherung und an Apathie grenzendes Rückzugsverhalten
- rastloses Wandern und Verlassen des Wohnbereiches und der Einrichtung
- Rufen, Klopfen, Sammeltrieb, Stühle schieben u. a.
- Konflikte unter den Bewohnern
- negative Auswirkungen auf das Ess- und Trinkverhalten.
In Blog 8 wird gezeigt, dass die Angebote der Tagesstrukturierung nicht nur als Rahmen und Halt für die hilflosen Personen dienen, diese Betreuungsformen sind zusätzlich auch therapeutische Interventionen bezüglich der Minderung von Realitätsverlusten und Realitätsverzerrungen. So tritt z. B. das Krankheitssymptom beeinflussbare spontane Desorientierung nach Erfahrungen aus der stationären Altenhilfe häufiger auf, wenn die Demenzkranken allein sind. Sind sie hingegen eingebunden in das soziale Gefüge eines Gemeinschaftserlebens, dann wird diese Zeitverwirrung seltener beobachtet. Erklären lässt sich dieser Sachverhalt mit der Bindung oder auch „Fesselung“ der Aufmerksamkeit der Betroffenen. Für Demenzkranke ebenso wie für Kleinkinder gilt die neuropsychologische Erkenntnis, dass Aufmerksamkeit und Bewusstsein quasi identisch sind (Lind 2011: 79f). Die Wirksamkeit der oben angeführten Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien belegen diesen neurowissenschaftlichen Sachverhalt.
Für die Sozial- und Milieugestaltung im Heimbereich bedeutet dies, ein Milieu mit stark wirksamen Reizgefügen zu gestalten. Und die stärksten Reizgebilde hierbei bestehen aus den Mitmenschen, den Mitbewohnern und den Pflegenden und Betreuenden. Gruppenangebote ebenso wie das bloße Miteinander absorbieren oder binden fast automatisch die Aufmerksamkeit und vermindern so das Abgleiten in die Sphäre spontaner Desorientierungsphänomene. Für Pflegende und Betreuende gilt zusätzlich noch die Regelung des „Präsenzmilieus“: „bewohnerferne Tätigkeiten bewohnernah ausführen“ (Lind 2011: 143). Denn mehr noch als die Mitbewohner stabilisieren die Pflegenden und Betreuenden als vertraute Bezugspersonen das psychosoziale Gleichgewicht der Demenzkranken (Kihlgren et al. 1994).
Literatur
- Cohen-Mansfield, J. et al. (1992) The social environment of the agitated nursing home resident. International Journal of Geriatric Psychiatry, 7 (11): 789–798
- Cohen-Mansfield, J. et al. (1995) Environmental influences on agitation: An integrative summary of an observational study. The American Journal of Alzheimer’s Care and Related Disorders and Research, 10 (1): 32-39
- Kihlgren, M. et al. (1994) Auswirkungen der Schulung in integrationsfördernder Pflege auf die zwischenmenschlichen Beziehungsabläufe auf einer Langzeitabteilung. Pflege, 7 (3): 228–236
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Sachweh, S. (2008) Spurenlesen im Sprachdschungel. Kommunikation und Verständigung mit demenzkranken Menschen. Bern: Verlag Hans Huber
- Skovdahl, K. et al. (2003) Different attitudes when handling aggressive behaviour in dementia – narratives from two caregiver groups. Aging and Mental Health, 7 (4): 277-286
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Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.