Die Demenzverkindlichung (10) ist der Inhalt des 136. Blogs. Es werden kleinkindähnliche Aspekte des Verdinglichungskonzeptes erläutert.
Vorbemerkung
Im schweren Stadium sind viele Bereiche der Großhirnrinde dergestalt abgebaut, dass die geistige Erfassung und Verarbeitung innerer und äußerer Reizgefüge nicht mehr angemessen bewerkstelligt werden kann. Kognitive Fehl- und Minderleistungen sind dann an der Tagesordnung. Mit dem Mini-Mental-State (MMSE, Folstein et al. 1975) kann dieser Verlust deutlich gemessen werden. So werden z. B. im Stadium 6 der Reisbergskalen durchschnittlich nur noch 5 von 30 möglichen Punkten des MMSE erzielt.
Dieses Abbaustadium entspricht dem Entwicklungsstadium von Kleinkindern. Gemäß dem Modell von Piaget bezüglich der geistigen Entwicklung verlieren Demenzkranke in diesem Stadium Schritt für Schritt das geistige Vermögen, die Außenwelt durch Sprache und geistige Vorstellungen zu erfassen (präoperationale Stadium nach Piaget). Mehr und mehr nähern sich die Erkrankten dem sensomotorischen Stadium: In dieser Phase wird die Umwelt vorrangig durch die Sinnesorgane erfasst und damit auch verinnerlicht (Siegeler et al. 2016: 131). Intuitiv und damit komplementär passen sich Eltern in dieser Entwicklungsphase an das Leistungsvermögen im Umgang und auch im Sprachverhalten an, so dass optimale Entwicklungsbedingungen für das Kleinkind gewährleistet sind (Siegler et al. 2016).
In der Pflege und Betreuung Demenzkranker werden nun parallel zur Kindheitsentwicklung im fortgeschrittenen Stadium unbewusst und intuitiv dieselben Strategien praktiziert, die Formen eines Verdinglichungsansatzes mit beinhalten. Das Verdinglichungskonzept (vorläufiger Arbeitsbegriff) kann in diesem Zusammenhang wie folgt definiert werden: verbale Aussagen wie z. B. eine Aufforderung zu einer bestimmten Handlung werden durch nonverbalen Impulse in Gestalt von konkreten Gegenständen ergänzt und teilweise später auch ersetzt. Somit kann teilweise erreicht werden, dass eine Kommunikation mittels verstärkender zusätzlicher Sinneswahrnehmungen bei der Pflege und Betreuung angemessen bewerkstelligt werden kann. Die Sinnesorgane als Teile des peripheren Nervensystems und zugleich als Aufnahme- und Weiterleitungsorgane äußerer Reizgefüge stehen somit hierbei im Mittelpunkt (siehe Blog 46).
Kleinkindähnliche Aspekte des Verdinglichungskonzeptes
Im Folgenden wird anhand von mehreren Fallbeispielen gezeigt, welche Wirkung bloße Gegenstände als Hilfsmittel bei der Pflege und Betreuung besitzen. Dinge und Gegenstände ersetzen teilweise die geistige Erfassung äußerer Weltbezüge. Ähnlich wie bei Kleinkindern kann hierbei von einer Sinnesorientierung im Erfassen und Erleben der Umwelt ausgegangen werden. Die Demenzverkindlichung zeigt sich mittels äußerer Reizgefüge in Gestalt der Dinge, die noch recht angemessen und situationsgerecht erfasst werden können.
Belohnung und Anreiz
In Blog 106 wird beschrieben, dass die Körperpflege für Demenzkranke oft kein Vergnügen, sondern bloßes Pflichtprogramm ist. Hier bedarf es dann manchmal zusätzlicher Anreize und Belohnungen, um die Bereitschaft der Betroffenen zu erzielen. Bewährt haben sich in diesen Fällen Dinge mit einem recht hohen Wohlfühlfaktor. In Blog 17 wurde gezeigt, dass wie bei kleinen Kindern Süßigkeiten als Lockmittel sehr wirksam sind. Wenn z. B. Schokolade oder Kekse als Belohnung gezeigt wird, dann erhöht sich bei den Demenzkranken in der Regel die Bereitschaft für die Pflegehandlungen (Lind 2007: 141, siehe auch Camp 2015: 108).
Beruhigungsmaßnahme
Auch als Beruhigungsmaßnahme eignen sich konkrete Gegenstände und oft auch Leckereien. In Blog 31 wurde der Fall beschrieben, dass einer Demenzkranken nachts bei auftretender Unruhe stets ein Keks zur Beruhigung gereicht wurde. Dies hatte früher bereits ihre Mutter getan. Von Bedeutung ist hierbei der Aspekt, dass das Verdinglichungskonzept nicht nur eng mit dem einfachen Lernen bzw. Konditionieren verbunden ist, sondern auch eine Verknüpfung zu lebensgeschichtlich geprägten Gewohnheiten besitzt.
Zur Ablenkung bei der Pflege
Bei den Pflegehandlungen lässt sich manchmal in der Mimik und auch Gestik beobachten, dass die Demenzkranken unruhig und auch unwillig werden. Um einen drohenden Pflegeabbruch seitens der Gepflegten vorzubeugen, wird den bereits leicht Gestressten ein Ablenkungsgegenstand in die Hand gedrückt. Wie in Blog 14 gezeigt, handelt es sich hierbei um Doppelstrategien: Maßnahmen um von dem Stress der Pflege abzulenken. Bezüglich des Aspektes Verdinglichungskonzept können es vertraute Gegenstände sein (z. B. der „Gartengerätekatalog“) oder auch bloßes Naschwerk (Tüte Chips) (Lind 2011: 128, Camp 2015: 90f).
Zur Vermeidung einer Pflegeverweigerung
Es kommt immer wieder vor, dass Demenzkranke aus nicht bekannten Gründen die Mitwirkung an bestimmten Pflegehandlungen verweigern. Damit die notwendigen Pflegeprozeduren abgeschlossen werden können, gestalten die Pflegenden dann z. B. Szenarien im Sinne einer Demenzweltgestaltung, um die Betroffenen wieder in das Geschehen einbinden zu können. Hierbei werden dann bestimmte Gegenstände eingesetzt, wie das folgende Beispiel aus Blog 29 zeigt. Bei einigen Demenzkranken gab es Schwierigkeiten beim Einsetzen des Zahnersatzes. Hier wurde dann angekündigt, dass bald ein Foto der Bewohner gemacht werden würde. Ein Fotoapparat wurde diesbezüglich gezeigt. Dies überzeugte die Betroffenen (Lind 2007: 141).
Parallele zur Kindheitsentwicklung
Die hier angeführten Vorgehensweisen mithilfe verschiedener Gegenstände besitzen bedeutsame Funktionen, indem sie u. a. Pflege und Betreuung ermöglichen oder auch erleichtern. Gegenstände sind darüber hinaus für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium auch ein Grund für Freude und Wohlbefinden. Wie in Blog 29 angeführt, gilt für die Demenzpflege u. a. die Zielorientierung, aus dem alltäglichen Geschehen möglichst zugleich auch freudige Ereignisse zu machen. Geschenke sind hierbei von Bedeutung, denn die Demenzkranken verhalten sich hierbei ähnlich wie Kleinkinder, die sich stets über Geschenke freuen. So sind für Kinder oft Weihnachten und der Geburtstag die schönsten Tage im Jahr, gibt es doch die ersehnten Geschenke. Eine pflegende Angehörige hat aus diesem kindlichen Verlangen ein ständiges Tagesprogramm gestaltet, wie das folgende Beispiel zeigt: „Jeden Morgen wenn wir aufstehen kommt er in die Küche und findet einen Geburtstagskuchen, eine Geburtstagskarte und ein Geschenk auf dem Küchentisch. Jeden Abend kann er die Kerzen ausblasen, seine Karte öffnen, den Kuchen schneiden und sein Geschenkpaket aufmachen.“ (Camp 2015: 42).
Literatur
- Camp, C. J. (2015) Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Bern: Hogrefe Verlag
- Folstein, M. F. et al. (1975). Mini-Mental-State: A practical method for grading the cognitive state of patients for the clinician. Journal of Psychiatric Research, 12, 189 – 198
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer
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Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.