Die Wahrnehmungsstörung „fehlende Temperatur- und Schmerzwahrnehmung“ bildet den Inhalt des sechsten Blogs. Neurowissenschaftliche Erklärungsansätze und die erforderlichen Umgangsformen und auch Präventionsmaßnahmen werden angeführt.
Die folgenden Beispiele aus der Praxis verdeutlichen den Sachverhalt dieser auch bei Demenzen beobachteten Krankheitssymptome:
Beispiel 1: Eine Demenzkranke trinkt eine Tasse heißen Kaffee. Sie verbrüht sich die Schleimhäute, zeigt aber keinerlei Schmerzreaktion.
Beispiel 2: Eine Demenzkranke schlurfte ein Bein nachziehend längere Zeit über den Flur des Wohnbereiches. Es stellte sich heraus, dass sie sich das Bein gebrochen hatte. Auch sie zeigte keinerlei Schmerzen.
Als neurologische Erklärung für diese Krankheitssymptome kann gegenwärtig seitens des Autors nur der Abbauprozess, die Neurodegeneration, angeführt werden. Nervenzellen sterben nach einem bestimmten Strukturmuster oder Regelprinzip ab und vermindern somit auch das Leistungsspektrum des zentralen Nervensystems (Gehirn). Während bei den bisherigen Wahrnehmungsstörungen (Blog 1 – Blog 5) Verzerrungen und Fehldeutungen der Außenreize als Folge des hirnpathologischen Prozesses zu deuten sind, so ist in diesem Fall der völlige Verlust eines Bereiches des Wahrnehmungsvermögen festzustellen. Hier wird somit im Hirn regelrecht der Funktionsbereich der Schmerzwahrnehmung und Schmerzverarbeitung „abgeschaltet“.
In diesen Beispielen werden zwei unterschiedliche Wahrnehmungssphären angeführt: die Exterozeption (Außenwahrnehmung) und die Interozeption (Innenwahrnehmung). Die Exterozeption umfasst die Wahrnehmung der Außenreize vermittels der Sinnesorgane. Die Interozeption hingegen umfasst die Wahrnehmung der Innen- oder Binnenreize der Körperorgane, also innerorganischer Prozesse. Beim Trinken des heißen Kaffees handelt es sich um eine nicht mehr wirkende protopathische Wahrnehmung (Schmerz- und Temperaturwahrnehmung), es sind hier die Rezeptoren für die Wahrnehmung der in der Regel schmerzverursachenden Temperatur (Schmerz als Außenreiz) ausgeschaltet. Bei dem gebrochenen Bein hingegen wird das damit verbundene Reizgefüge (Schmerz als Binnenreiz) nicht mehr wahrgenommen. Beide Symptome können als Analgesie (Schmerzunempfindlichkeit) bezeichnet werden. Laut Wikipedia bestehen neben der medizinisch herbeigeführten Analgesie auch Formen der Analgesie mit Krankheitswert (u. a. Nervenverletzungen wie eine Querschnittslähmung und Gendefekte).
Konsequenzen für die Praxis
In den beiden Fällen liegen massive Gefahren für körperliche Gesundheit vor. Die Demenzkranken verfügen in den Beispielen nicht mehr über die lebenserhaltenden Schutzfunktionen und bedürfen daher äußerer Schutzmaßnahmen, die nun angeführt werden.
Temperaturregulationen
Sowohl im Heimbereich als auch im häuslichen Bereich sollten die Umweltgegebenheiten den Faktor der fehlenden Temperatur- und Schmerzempfindungen als eine neue Regulationsaufgabe strikt berücksichtigen. Im Heim sind hierfür die Qualitätsbeauftragten zuständig, im häuslichen Bereich sollten sich die ambulanten Dienste dieser Aufgabe stellen. Hierbei gilt es zu beachten, dass die durchschnittliche Schmerzgrenze bei ca. 47 Grad Celsius der Wassertemperatur liegt. Folgende Empfehlungen sollten bezüglich der Temperaturregulation Berücksichtigung finden:
Vermeidung von Verbrühungen: Anlagen von erwärmtem Trinkwasser sind so zu gestalten, dass das Risiko von Verbrühungen gering ist. An Entnahmestellen mit besonderer Beachtung der Auslauftemperaturen wie Krankenhäuser, Kindergarten, Altenheime, usw. soll zur Verminderung des Risikos von Verbrühungen thermostatische Mischventile oder – Batterien mit Begrenzung der oberen Temperatur eingesetzt werden. Empfohlen wird eine höchste Temperatur von 43°C. Bei Duschanlagen usw. in Kindergärten, Pflegeheimen u. a. sollte sichergestellt werden, dass die Temperatur 38°C nicht übersteigen kann. (Quelle: http://www.bosy-online.de/DIN_EN_806_Teil_2_Kurzform.htm) Das Vermeiden von Verbrühungen schließt das Verbot des Anbietens oder Anreichens heißer Getränke und Speisen ein.
Regulation der Temperatur in den Innenräumen: Da die Regulationsfähigkeit der Außenreize wie z. B. eine Raumtemperatur bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr gegeben ist, gilt es nun, dieses Defizit in der Milieugestaltung zu berücksichtigen (Lind 2011: 134 und 310). Es darf konkret nicht zu kalt und auch nicht zu warm sein, denn Demenzkranke reagieren auf eine physiologische Überforderung durch thermische Reize oft mit Unruhe und Aggressivität.
Gefährdung durch niedrige Außentemperaturen: Eine massive Gefahr für die körperliche Unversehrtheit besteht aus dem unbeaufsichtigten Verlassen des Heimes oder des häuslichen Bereiches bei niedrigen Außentemperaturen wie z. B. des Nachts im Winter in leichter Nachtbekleidung. Da die Demenzkranken die Kälte nicht mehr spüren, droht in diesen Fällen der Tod durch Erfrieren bereits nach kurzer Zeit. Bei diesen Gegebenheiten ist eine beschützende Unterbringung angezeigt.
Schmerzunempfindlichkeit
Im Bereich der Schmerzerfassung bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium sind mittlerweile verschiedene Erhebungsinstrumente zum Einsatz gelangt. Bei entsprechenden Fort- und Weiterbildungen sollte nun zusätzlich das Krankheitssymptom Schmerzunempfindlichkeit in das Inhaltspaket „Schmerzen bei Demenzkranken“ aufgenommen werden. Hierbei geht es vor allem um die Beobachtung abweichender Körperbewegungen und auch Körperhaltungen besonders der Extremitäten (Beine, Füße, Arme und Hände).
Literatur
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Schmerzunempfindlichkeit
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.
Zwei äußerst interessante Fälle. Ist bekannt, wie der weitere Krankheitsverlauf bezüglich der Heilung der Brüche verlief?
Bei dem Bewohner mit dem gebrochenen Mittelfinger blieb eine Fehlstellung zurück.
Bei der Bewohnerin mit dem gebrochenen Arm waren, so weit ich mich erinnere, zumindest keine äußerlich sichtbaren Schäden zu erkennen.
Hallo Herr Lind,
zum Thema „Schmerzunempfindlichkeit“ habe ich folgende Beispiele:
Ein Bewohner hatte sich bei einem Sturz einen offenen Bruch des Mittelfingers zugezogen. Nachdem die Wunde im Krankenhaus genäht und der Finger geschient worden war, kam er wieder zurück ins Pflegeheim. Sofort wickelte er den scheinbar störenden Verband ab und machte sogar mit den Fingern Bewegungsübungen, so dass die Wunde irgendwann wieder aufplatzte. Die Pflegekräfte legten Verband und Schiene wieder an, er nahm alles wieder ab. Erklärungen, warum der Verband nötig war, konnte er nicht aufnehmen.(fehlende Krankheitseinsicht)
Eine Bewohnerin hatte sich bei einem Sturz den Arm gebrochen, dieser wurde mit einer Gipsschiene versorgt. Auch sie wickelte ständig den Verband ab und entfernte die Gipsschiene, die Pflegekräfte legten sie wieder an. Auch diese Bewohnerin konnte keine Erklärungen zur Notwendigkeit der Gipsschiene aufnehmen.