Das Verdinglichungskonzept

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Das Verdinglichungskonzept (vorläufiger Arbeitsbegriff) ist der Inhalt des 46. Blogs. Es werden einleitend die wesentlichen Aspekte dieses theoretischen Ansatzes aufgeführt.

Vorbemerkung

In Blog 26 wurden die Pflegeprinzipien Konditionierung und biografische Stetigkeit als Grundpfeiler eines Rahmenkonzeptes einer noch zu entwickelnden Theorie der Demenzpflege dargestellt. Es wurde in diesem Kontext neurowissenschaftlich erläutert, dass Demenzkranke im fortgeschrittenen und damit schweren Stadium mittels der Konditionierung noch lernfähig sind. Dieses Lernen beschränkt sich jedoch auf das unbewusste Gewohnheitslernen, da die für diesen geistigen Prozess tiefer liegenden Areale des Gehirns (Kleinhirn) noch funktionsfähig sind (Markowitsch et al. 2006: 137). Durch ständige Wiederholungen unveränderter Reizgefüge werden neue Langzeitgedächtnisinhalte aufgebaut und damit verinnerlicht. Innenwelt und Außenwelt sind dadurch kompatibel im Sinne einer Person-Umwelt-Passung geworden. Auf dieser Grundlage kann Pflege und Betreuung vollzogen werden (siehe Blog 13).

Konditionierung kann im Bereich der Demenzpflege als ein Anpassungskonzept verstanden werden, denn es gleicht die Unfähigkeit zur selbständigen Erfassung und Bewältigung der Umweltgegebenheiten aus, da die hierfür erforderlichen Hirnareale im Großhirn bereits abgebaut sind. Konditionierung ist somit ein auf das fortgeschrittene Stadium ausgerichtetes Kompensationskonzept. Verinnerlichen der Außenwelt bedeutet Regulierung und Vereinfachung der Reizdarbietung.

Die Erfassung und Bewältigung der Umwelt im schweren Stadium erfordert neben den Konditionierungsmaßnahmen weitere Vorgehensweisen einer vereinfachten Reizgestaltung der Umwelt. Im Folgenden wird die Vorgehensweise des Verdinglichungskonzeptes einleitend beschrieben.

Das Verdinglichungskonzept

Im schweren Stadium sind viele Bereiche der Großhirnrinde dergestalt abgebaut, dass die geistige Erfassung und Verarbeitung innerer und äußerer Reizgefüge nicht mehr angemessen bewerkstelligt werden kann. Kognitive Fehl- und Minderleistungen sind dann an der Tagesordnung. Mit dem Mini-Mental-State (MMSE, Folstein et al. 1975) kann dieser Verlust deutlich gemessen werden. So werden z. B. im Stadium 6 der Reisbergskalen durchschnittlich nur noch 5 von 30 möglichen Punkten des MMSE erzielt.

Die Parallele zur Kindheitsentwicklung

Dieses Abbaustadium entspricht dem Entwicklungsstadium von Kleinkindern. Gemäß dem Modell von Piaget bezüglich der geistigen Entwicklung verlieren Demenzkranke in diesem Stadium Schritt für Schritt das geistige Vermögen, die Außenwelt durch Sprache und geistige Vorstellungen zu erfassen (präoperationale Stadium nach Piaget). Mehr und mehr nähern sich die Erkrankten dem sensomotorischen Stadium: In dieser Phase wird die Umwelt vorrangig durch die Sinnesorgane erfasst und damit auch verinnerlicht (Siegeler et al. 2016: 131). Intuitiv und damit komplementär passen sich Eltern in dieser Entwicklungsphase an das Leistungsvermögen im Umgang und auch im Sprachverhalten an, so dass optimale Entwicklungsbedingungen für das Kleinkind gewährleistet sind (Siegler et al. 2016).

In der Pflege und Betreuung Demenzkranker werden nun parallel zur Kindheitsentwicklung im fortgeschrittenen Stadium unbewusst und intuitiv dieselben Strategien praktiziert, die Formen eines Verdinglichungsansatzes mit beinhalten. Der Verdinglichungsansatz (vorläufiger Arbeitsbegriff) kann in diesem Zusammenhang wie folgt definiert werden: verbale Aussagen wie z. B. eine Aufforderung zu einer bestimmten Handlung werden durch nonverbalen Impulse in Gestalt von konkreten Gegenständen ergänzt und teilweise später auch ersetzt. Somit kann teilweise erreicht werden, dass eine Kommunikation mittels verstärkender zusätzlicher Sinneswahrnehmungen bei der Pflege und Betreuung angemessen bewerkstelligt werden kann. Die Sinnesorgane als Aufnahme- und Weiterleitungsorgane äußerer Reizgefüge stehen somit hierbei im Mittelpunkt. Die Sinnesorgane sind als Erweiterung des zentralen Nervensystems (Gehirn) von zentraler Bedeutung.

Funktion und Wirkweisen des Verdinglichungsansatzes

Wie bereits weiter oben festgestellt wurde, sind im fortgeschrittenen Stadium der Demenz viele Areale u. a. im Frontallappenbereich bedingt durch den Abbauprozess nicht mehr vollständig oder nur noch teilweise funktionsfähig. Bezogen auf die verbale Kommunikation kann hier von einem eingeschränkten Verarbeitungsvermögen ausgegangen werden. Worte hören und Worte verstehen sind zwei unterschiedliche Funktionsbereiche. Dies lässt sich wie folgt erklären: geistig nicht eingeschränkte Personen vermögen die Mehrdimensionalität verbaler Botschaften zu interpretieren. In Anlehnung an Paul Watzlawick kann hierbei u. a. von der Inhaltsebene und der Beziehungsebene gesprochen werden. Demenzkranke können aufgrund des Abbaus im Großhirnbereich nicht mehr die Inhaltsdimension als geistigen Aspekt erfassen, sind aber noch in der Lage, den Beziehungsaspekt als emotionalen Aspekt deutlich zu erkennen. Neurophysiologisch und zugleich auch neuropathologisch kann dieser Sachverhalt wie folgt erklärt werden: die zuständigen Großhirnareale sind abgeschaltet, die tieferliegenden Areale im limbischen System (Amygdala u. a.) sind hingegen noch funktionsfähig. Somit werden die emotionalen beziehungsbezogenen Dimensionen hier noch voll ausgewertet (emotionale Prosodie) (Lind 2007: 173, Lind 2011: 187).

Worte und damit auch das Reden sind weiterhin unabdingbar für die Pflege und Betreuung Demenzkranker. Es verschieben sich nur die Gewichtungen in der Funktionsweise dergestalt, dass das Reden als Informationsweitergabe etwas in den Hintergrund tritt, das Reden zur Beruhigung und auch zur Ablenkung dafür sehr oft praktiziert wird.

In welchen Bereichsfeldern der Demenzpflege einschließlich der Demenzweltgestaltung Strategien des Verdinglichungssatzes angewendet werden, zeigt folgende Auflistung:

  • zur Ermöglichung der Pflege
  • als Elemente der Demenzweltgestaltung
  • zum Einsatz bei wahnhaften Halluzinationen
  • als Elemente bei nächtlichen Eingebungen
  • bei der Beeinflussung belastender Erinnerungen
  • als zusätzliche Hilfsmittel bei der Verhaltensbeeinflussung
  • als Ersatz für nahe Angehörige
  • als Teile einer Ermöglichungsstrategie bei zwangsähnlichen Desorientierungsverhalten
  • zur Eingewöhnung in das Heimleben
  • zur psychosozialen Stabilisierung und Identitätsstärkung
  • als Auslöseimpulse für Handlungsweisen (u. a. Mahlzeiteneinnahme)
  • als Ablenkungsreize bei aufkommender Unruhe
  • als Belohnung und Lockangebot bei Pflegehandlungen
  • als Elemente einer fiktiven Demenzweltgestaltung
  • als Element bei Konditionierungsmaßnahmen

Diese Vorgehensweisen und Strategien des Verdinglichungsansatzes werden in den nächsten Blogs eingehend beschrieben. Es bedarf an dieser Stelle noch des Hinweises, dass das Verdinglichungskonzept mit dem zentralen Element „konkrete Gegenstände“ als Teilbereich eines „sinnesorientierten Ansatzes“ in der Demenzpflege klassifiziert wird. Dieser „sinnesorientierte Ansatz“ (vorläufiger Arbeitsbegriff) stellt eine allgemeinere Anpassungsstrategie an den Abbauprozess im schweren Stadium dar, der in weiteren Blogs dargestellt wird.

Literatur

  • Folstein, M. F. et al. (1975). Mini-Mental-State: A practical method for grading the cognitive state of patients for the clinician. Journal of Psychiatric Research, 12, 189 – 198.
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
  • Markowitsch, H. J. et al. (2006) Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta (2. Auflage).
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23.
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer.

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