Die Realitätsverkindlichung (Teil 2)

Geschätzte Lesedauer: 4 Minuten

Realitätsverkindlichung (Teil 2) ist der Inhalt des 73. Blogs. Es werden die neurophysiologischen Unterschiede zwischen der Hirnreifung und dem krankhaften Abbauprozess bei der Demenz beschrieben.

Fortsetzung zur Begrifflichkeit Realitätsverkindlichung

Um Fehldeutungen und Missverständnisse bezüglich der Begrifflichkeit Realitätsverkindlichung zu vermeiden, wird hier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Demenzkranke keine kleinen Kinder sind. Es bestehen Parallelen, also Ähnlichkeiten im Verhalten und teils auch in der Wahrnehmung und im Empfinden. Neben den Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch auch gravierende Unterschiede zwischen Demenzkranken und Kleinkindern feststellen, wie im Folgenden gezeigt wird.

Die Gemeinsamkeiten

Die Ähnlichkeit zeigt sich vor allem im Verhalten. Es ist die kindliche Naivität, die Demenzkranke und Kleinkinder miteinander teilen, die sie leichtgläubig, arglos und auch leicht lenkbar erscheinen lässt. Und vor allem ist die eklatante Hilflosigkeit in der Bewältigung des Alltags, der sie so schutzbedürftig wirken lässt, dass Pflegende ähnlich wie Eltern intuitiv und damit zugleich auch instinktiv hierauf mit Formen der Hilfe und Zuwendung reagieren (siehe Blog 67 und Blog 68).

Neuropathologisch und zugleich auch neurophysiologisch lässt sich diese Parallelität in der Erfassung und Verarbeitung der inneren und äußeren Reizgefüge mit der Wirkmächtigkeit des limbischen Systems mit dem Kernelement Amygdala (Mandelkern) erklären. Konkret bedeutet das, dass Gefühle und nicht geistige oder kognitive Prozesse das Erleben der Innen- und Außenwelt bestimmen. Nach dem entwicklungspsychologischen Modell von Jean Piaget befinden sich in dieser Phase Säuglinge und Kleinkinder im sensomotorischen und teils präoperationalen Stadium (Siegler et al. 2016: 131). Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium oder genauer im schweren Stadium (überwiegend Stadium 6 der Reisbergskalen) werden dann ebenfalls in ihrem Verhalten überwiegend von ihren Emotionen geleitet (Reisberg et al. 1999).

Die Hirnreifung des Kleinkindes und der neurodegenerative Abbau bei Demenzkranken teilen sich somit das Fehlen des Wirkens der Hirnareale im präfrontalen Bereich der Großhirnrinde, der für die geistige Erfassung und Verarbeitung der inneren und äußeren Reizgefüge in Verbindung mit anderen Hirnarealen (u. a. Schläfenlappen) zuständig ist (Jäncke 2013: 398f).

Gemeinsam sind Kleinkindern und Demenzkranken nicht nur die gefühlmäßige Erfassung der Welt, gemeinsam sind ihnen auch die Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung. Waschen, Ankleiden und vieles mehr müssen Kinder sich in diesem Entwicklungsstadium Schritt für Schritt gemäß der Hirnreifung noch aneignen. Bei Demenzkranken hingegen sind wir mit einem ständig fortschreitenden Abbauprozess konfrontiert. Stück für Stück gehen Kompetenzen in der Bewältigung des alltäglichen Lebens verloren. Sie werden somit zunehmend hilfebedürftig und damit auch pflegebedürftig. Im schweren Stadium können die Demenzkranken sich selbst ohne Hilfe weder waschen, noch ankleiden und die Mahlzeiten angemessen einnehmen (Reisberg et al. 1999). Erklärt werden können diese Kompetenzeinbußen mit dem geistigen Abbau, hier u. a. mit dem Verlust der Exekutivfunktionen (Planen, Vorbereiten, Durchführen, Kontrollieren und Bewerten) (Jäncke 2013: 394ff). Die Degeneration im Bereich des Hippocampus (Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnis) ist für diese Minderleistung verantwortlich.

Die Unterschiede

Bei diesen doch recht vielen Gemeinsamkeiten bei Kleinkindern und Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium bezüglich der Welterfassung und bezüglich des Welterlebens stellt sich die Frage, was diese beiden Personengruppen deutlich unterscheidet, sieht man vom Alter einmal ab. Es ist der Leidensprozess, den Demenzkranke oft im fortgeschrittenen Stadium aufgrund des neurodegenerativen Abbauprozesses verspüren. Dieses Leiden erleben Kleinkinder in der Regel nicht während ihres geistigen und körperlichen Wachsens. Im Gegenteil, dieser Entwicklungsprozess ist überwiegend mit Freude und wachsendem Selbstvertrauen verbunden. Im Folgenden werden Aspekte dieses Leidens- und damit zugleich auch Krankheitsprozesses anhand einiger Faktoren erläutert.

Das Abschaltprogramm

Der neurodegenerative Abbau bei Demenzkranken hat mit dem Hirnreifungsprozess das Strukturprinzip gemein, nur eben in entgegengesetzter Richtung. Konkret: die Hirnareale, die zuletzt hirnphysiologisch online geschaltet wurden, werden beim Abbauprozess zuerst offline geschaltet. Die entsprechenden Nervenzellen in diesen Hirnarealen sterben ab und die damit verbundene Hirnfunktion wie z. B. das Kurzzeitgedächtnis werden Schritt für Schritt deaktiviert bis später ganz abgeschaltet. Wenn nun zentrale Koordinierungs-, Kontroll-, Unterdrückungs- und Aktivierungsaufgaben des Gehirns, die überwiegend im präfrontalen Bereich der Großhirnrinde lokalisiert sind, ausfallen, da diese Hirnareale abgebaut und damit abgeschaltet sind, dann entsteht für die Demenzkranken regelrecht ein Chaos. Dies wird an folgenden Beispielen gezeigt.

Desorientierungsphänomene

In Blog 8 wird die Krankheitssymptomatik „beeinflussbare spontane Desorientierung“ (vorläufiger Arbeitsbegriff) erklärt. Neurowissenschaftlich und zugleich auch neuropathologisch lässt sich diese Symptomatik mit dem fehlenden Realitätsfilter im Frontallappen der Großhirnrinde erklären (Schnider 2012). Diesem Filter obliegt die Aufgabe, Impulse aus verschiedenen Hirnarealen, bevor sie ins Bewusstsein dringen, hinsichtlich ihrer Realitätsbezogenheit zu bewerten und zu klassifizieren (Erinnerung oder Realität). Bevor nun z. B. ein Impuls aus dem Langzeitgedächtnis ins Bewusstsein gelangt, wird er vom Realitätsfilter überprüft und entweder unterdrückt bzw. als bloße Erinnerung markiert. Geht nun diese Filterfunktion aufgrund des Abbauprozesses im präfrontalen Bereich der Großhirnrinde verloren, so dringen Erinnerungen ungefiltert ins Bewusstsein und werden für die Realität gehalten. Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium befinden sich somit oft zugleich in zwei Zeitsphären, der Vergangenheit und der Gegenwart, die sie nicht mehr realitätsgerecht zu trennen vermögen (Lind 2007: 48f).

Ähnlich verhält es sich bei dem „zwangsähnlichen Desorientierungsverhalten“ (vorläufiger Arbeitsbegriff), das in Blog 12 beschrieben wird. Auch hier können aufgrund des Abschaltprogramms im präfrontalen Bereich der Großhirnrinde episodisch-prozedurale Langzeitgedächtnisinhalte nicht mehr angemessen verarbeitet werden (Markowitsch et al. 2006: 142f).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass zwangsläufig Chaos im Hirn entstehen muss, wenn im schweren Stadium die episodischen und prozeduralen Langzeitgedächtnisinhalte zwar noch vorhanden und damit zugleich auch potentiell wirksam sind, die hierfür zuständigen Kontroll- und Regulierungsfunktionen jedoch bereits abgeschaltet sind.

Furcht- und Unruhezustand

Nicht nur die noch wirkmächtigen Langzeitgedächtnisinhalte können ein massives Überforderungs- und Stressempfinden verursachen, es reicht manchmal bereits auch schon aus, dass ein Hirnareal noch intakt und damit funktionsfähig ist, das korrespondierende Kontroll- und Regulierungsareal hingegen bereits abgeschaltet ist. Gemeint ist hier das Zusammenwirken von der Amygdala (Furchtregion im limbischen System) mit dem präfrontalen Bereich der Großhirnrinde.

In Blog 2 wird anhand eines Fallbeispiels erklärt, wie leicht Demenzkranke in einen panikartigen Furcht- und Unruhezustand versetzt werden können. Es reicht z.B. ein akustischer Reizimpuls wie das Telefonklingeln hierzu aus (Lind 2011: 158). Dieser Reiz, der aufgrund der akustischen Agnosie im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr identifiziert werden kann, aktiviert die Furchtregion im limbischen System (Amygdala). Da nun die Schutz-, Puffer- und damit auch Beruhigungsfunktionen im präfrontalen Bereich nicht mehr aufgrund des Abbaus wirksam sind, sind die Betroffenen den Furchtimpulsen der Amygdala schutzlos ausgeliefert. Für den Demenzkranken bedeutet dies konkret, dass er u. a. auch seine Fähigkeit zur Selbstberuhigung verliert. Er gerät somit immer gleich auch bei nichtigen Anlässen in den Panik- und Überstressmodus.

Literatur

  • Jäncke, L. (2013) Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften. Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber.
  • Markowitsch, H.J. et al. (2006) Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta (2. Auflage).
  • Reisberg, B. et al. (1999) Toward a science of Alzheimer’s disease management: a model based upon current knowledge of retrogenesis. International Psychogeriatrics, 11 (1): 7-23.
  • Schnider, A. (2012) Konfabulationen und Realitätsfilter. In: Karnath, H.-O. und Thier, P. (Hrsg.) Kognitive Neurowissenschaften, Berlin: Springer (567 – 572)
  • Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer.

Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Kontaktformular). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.

Ein Gedanke zu “Die Realitätsverkindlichung (Teil 2)”

  1. Vielen Dank für diesen Blog. Ich bin begeistert. Ich finde es so gut erklärt, dass alte, demente Menschen keine kleinen Kinder sind´, aber ähnliche Verhaltensweisen haben und welche auch nicht. z. B. die Fröhlichkeit des kleinen Kindes. Für mich sind die Zusammenhänge so sehr deutlich. So werde ich dass auch an andere Interessierte weitergeben. Beste Grüße
    Annelie Gilles

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert