Positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker sind der Inhalt des 98. Blogs. Es werden unbewusst selbststabilisierende Verhaltensweisen angeführt.
Vorbemerkungen
In den letzten Blogelementen wurde mehrfach darauf verwiesen, welche Gefahren im Sinne einer psychischen Überforderung entstehen, wenn die Lebenswelt der Demenzkranken nicht strikt nach den Regeln der Altbiografie und Neubiografie ausgerichtet wird. Diese Wirkprinzipien bilden den entscheidenden psychosozialen Rahmen für eine angemessene Person-Umwelt-Passung. Werden diese Prinzipien nicht ausreichend berücksichtigt, wird das Heimleben für die Betroffenen regelrecht zu einer Art Vorhölle, die aufgrund des permanenten Überstresses zu einem vorzeitigen Ableben führen kann (siehe Blog 57). Die Unversehrtheit kann in diesem Kontext nicht mehr gewährleistet werden.
In diesem Blog wird nun der Sachverhalt erläutert, dass auch positive Aspekte in der Lebenswelt Demenzkranker im Heimbereich bestehen. So werden u. a. Empfindungen von Wohlbefinden, Zufriedenheit und auch Geborgenheit auch bei Demenzkranken im fortgeschrittenen Stadium trotz mannigfaltiger geistiger und auch emotionaler Beeinträchtigungen beobachtet. Bezüglich der Herkunft oder Genese dieser psychisch stabilen und freudvollen Gegebenheiten lassen sich zwei Zugangswege aufzeigen:
- Unbewusstes selbststabilisierendes Verhalten und Wahrnehmen
- Durch therapeutische Interventionen hervorgerufene psychisch stabilisierende Gemütslagen
In Blog 59 ist angeführt, dass das unbewusste sich arrangieren mit den objektiven Gegebenheiten im Sinne einer positiven Sichtweise oder eines psychischen Selbstschutzes auch bei älteren und alten Menschen ohne demenzielle Erkrankung nachgewiesen wurde. So konnte z. B. in der Berliner Altersstudie belegt werden, dass Senioren trotz gesundheitlicher und teils auch materieller und sozialer Einschränkungen mit sich und ihren Lebensumständen überwiegend zufrieden waren. Dieses Empfinden wurde angesichts der deutlichen Diskrepanz bezüglich der objektiven Sachverhalte und der subjektiven Bewertung (u. a. objektive und subjektive Gesundheit) als „Zufriedenheitsparadox“ bezeichnet (Mayer et al. 1996).
Unbewusst selbststabilisierendes Verhalten und Wahrnehmen
Unbewusst selbststabilisierendes Verhalten bzw. unbewusst selbststabilisierende Wahrnehmungen sind bereits in verschiedenen Blogs beschrieben worden (u. a. Blog 58). Dabei handelt es sich u. a. um eine psychiatrische Krankheitssymptomatik wie die fehlende Krankheitseinsicht, um Wahrnehmungsstörungen wie Stabilisierungshalluzinationen und um kleinkindähnliche Realitätsverkennungen. Sie werden hier nochmals zusammenfassend dargestellt.
Fehlende Krankheitseinsicht
In Blog 34 wird auf das Krankheitssymptom fehlende Krankheitseinsicht unter dem Aspekt der Pflegeverweigerung eingegangen. Die fehlende Krankheitseinsicht (Anosognosie) äußert sich bei den Demenzkranken oft in der Überzeugung, noch selbständig und fit zu sein und somit auch keine Hilfestellung bei der Körperpflege und dem Ankleiden zu benötigen (Lind 2007: 121, siehe Blog 1). Die fehlende Krankheitseinsicht ist ein Symptom vieler neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen (Schröder 2006, Lind 2011: 171). Es handelt sich hierbei um eine Selbstwahrnehmungsstörung; sie kann als eine Störung in der Verarbeitung innerer Reizkonstellationen (dysfunktionale Interozeption) klassifiziert werden (siehe Blog 6). Es bedarf des Hinweises, dass fehlende Krankheitseinsicht bei der Demenz mit verminderter oder fehlender Depressivität einhergeht. Die Erkrankten fühlen sich also hierbei relativ wohl (Schröder 2006: 90).
Ein Hinweis für die Praxis: Aufgrund der fehlenden Krankheitseinsicht verweigern Demenzkranke oft Pflegehandlungen mit dem Hinweis, sie würden sich später schon selbst waschen und anziehen. Bewährt haben sich in diesen Fällen „Doppelstrategien“ wie z. B. die Strategie der „fiktiven Selbstpflege“ (Pflege mit Ablenkungs- und Beruhigungsimpulsen) (siehe Blog 14).
Stabilisierungshalluzinationen
In Blog 5 wird ausgeführt, dass Halluzinationen Wahrnehmungsstörungen sind, die bei Demenzkranken relativ häufig auftreten (Lind 2007: 51). Unterschieden werden können Halluzinationen dabei auch hinsichtlich ihres jeweiligen Belastungsgrades für die Betroffenen. Das Spektrum reicht hier von nicht störend bis hin zu einem starken Belastungsempfinden (Lind 2011: 208 ff). Nicht thematisiert hingegen wurde bisher in der Demenzpflege die Gegebenheit „positiver Halluzinationen“ („Stabilisierungshalluzinationen“). Hierbei halluzinieren Demenzkranke meist Haustiere angesichts der sie überfordernden Gegebenheiten der Umwelt (Lind 2011: 208). Auch hier besteht wieder die Parallele zum Verhalten von Kindern. Bei schätzungsweise ungefähr 10 Prozent der allein ohne Geschwister oder Freunde aufwachsenden Kindern in meist zusätzlich belastenden Familienkonstellationen wird beobachtet, dass sie unbewusst ohne ihr Zutun „imaginäre Spielkameraden“, also Halluzinationen, erfinden oder entwickeln, ohne dabei jedoch Anzeichen einer psychotischen Störung im Sinne einer Erkrankung zu zeigen (Siegler et al. 2016: 251, Kasten 2008: 54).
In Blog 10 sind konkrete Fallbeispiele von Stabilisierungshalluzinationen bei Demenzkranken aufgelistet:
Beispiel 1: Eine Demenzkranke fordert die Pflegende regelmäßig auf, der „Katze“ im Zimmer Milch zu geben. Das wird dann auch getan, indem eine Untertasse mit etwas Milch neben das Bett gestellt wird (Lind 2011: 208).
Beispiel 2: Eine Pflegende darf eine Bewohnerin morgens erst pflegen, wenn das „Huhn“ gefüttert ist. Dem Wunsch entsprechend verstreut die Mitarbeiterin vor dem Pflege immer etwas Hühnerfutter im Zimmer (Lind 2011: 208).
Beispiel 3: Bei der Betreuung muss eine Pflegende darauf achten, wo „Bobby“ sich gerade befindet. Keiner weiß so recht, ob „Bobby“ nun ein Mensch oder ein Tier ist, doch wenn die Pflegenden darauf hingewiesen werden „Da sitzt Bobby!“, dann wird der Stuhl nicht benutzt (Lind 2011: 208).
Gespräche mit Gegenständen
In Blog 58 werden u.a. unter der Rubrik Selbstbeschäftigung demenzspezifische Verhaltensweisen angeführt, die als Selbststabilisierungsphänomene klassifiziert werden können: das Flirten mit einem Waschlappen (Stoffers 2016), das Gespräch mit einer Plastikrose (Röse 2017: 259) oder mit dem Spiegelbild. Auch wurde beobachtet, dass mit einem am Haken hängenden Morgenmantel gesprochen wurde (Becker 1995). Bei diesen Verhaltens- und Wahrnehmungssymptomen besteht wieder die Parallele zur Entwicklungspsychologie dahingehend, dass Kleinkinder im Alter von ca. 18 Monaten ähnliche Verhaltensweisen zeigen, die als „Als-ob-Spiel“ und als „Objektsubstitution“ bezeichnet werden (Siegler et al. 2016: 249).
Literatur
- Becker, J. (1995) Die Wegwerf-Windel auf der Wäscheleine. Die Handlungslogik dementer alter Menschen verstehen lernen. Darmstadt: afw – Arbeitszentrum Fort- und Fortbildung im Elisabethenstift Darmstadt
- Kasten, E. (2008)Die irreale Welt in unserem Kopf, München: Ernst Reinhardt Verlag
- Lind, S. (2007) Demenzkranke Menschen pflegen, Bern: Verlag Hans Huber
- Lind, S. (2011) Fortbildungsprogramm Demenzpflege, Bern: Verlag Hans Huber
- Mayer, K. U. et al. (Hrsg.) (1996) Die Berliner Altersstudie. Berlin: Akademie Verlag
- Röse, K. M. (2017) Betätigung von Personen mit Demenz im Kontext Pflegeheim. Bern: Hogrefe
- Siegler, R. et al. (2016) Entwicklungspsychologie im Kindes- und Jugendalter. Berlin: Springer
- Schröder, S. G. (2006) Psychopathologie der Demenz. Symptomatologie und Verlauf dementieller Erkrankungen. Stuttgart: Schattauer
- Stoffers, T. (2016) Demenz erleben: Innen- und Außensichten einer vielschichtigen Erkrankung. Wiesbaden: Verlag Springer
Leserinnen und Leser dieses Blogs werden um eine Kommentierung gebeten (siehe unten). Liegen seitens der Leserschaft weiterführende Wissensstände zu dieser Thematik vor, wird um eine Benachrichtigung per E-Mail gebeten (Sven.Lind@web.de). Sollten zu einem späteren Zeitpunkt Publikationen über diese Themenstellung erscheinen, werden diese Personen auf Wunsch hierbei namentlich als Mitwirkende genannt werden.
Dr. phil., Diplom-Psychologe, geboren am 21.09.1947 in Marburg/Lahn.
Dieser Blog dient dem Zweck, im Bereich der Pflege und Betreuung Demenzkranker weitere Erfahrungen und Wissensstände auf der Grundlage neurowissenschaftlicher Erkenntnisse zu ermitteln und zu strukturieren.